Revolte per Übersetzung

 

Die “Antigone” des Sophokles ist ein Paradigma des Widerstands. Sie stellt sich gegen ihren Onkel Kreon, als er bei Todesstrafe verbietet, den in der Schlacht getöteten Bruder ordnungsgemäß zu bestatten. Dieser hatte einen Angriffskrieg gegen die Stadt geführt, doch Antigone verteidigt sein Recht auf ein herkömmliches Begräbnis. Lieber wählt sie selbst den Tod, als sich der Rache des Siegers zu beugen.

Soweit ist die narrative Vorgabe unumstritten. Damit ist allerdings noch nichts über die Gründe des Widerstands und über die Verhältnismäßigkeit der Strafandrohung sowie des Einsatzes des eigenen Lebens gesagt. Dazu ist viel geschrieben worden. Ist Antigone eher eine Jeanne d’Arc oder eine Maria Restituta Kafka? Die Frage soll hier offen bleiben. Ein kleines Detail beleuchtet den Beitrag, den Übersetzungen zu dieser Diskussion beisteuern können.

Das Stück beginnt mit einem Dialog zwischen Antigone und ihrer Schwester Ismene. Antigone fragt sie, ob sie beim Begräbnis des Bruders mitmacht. Sie jedenfalls sei entschlossen dazu.

ISMENE: Weh mir, wie bin in Angst ich um dich Ärmste!
ANTIGONE: Um mich sei dir nicht bang! Bring dein Geschick ins Los!
ISMENE: Verrat zumindest keinem diese Tat, verbirgt sie im Geheimen, und auch ich will’s tun!
ANTIGONE: Nein, posaun es aus! Weit mehr noch hass ich dich, wenn du’s verschweigst, wenn du’s nicht allen kündest! Übersetzung Kurt Steinmann

Das ist ein klarer Hinweis darauf, dass Antigone die Öffentlichkeit sucht. Eine Kampfansage an Kreon. Nur steht das nicht im Original.

Ismene beginnt mit “οἴμοι ταλαίνης, ὡς ὑπερδέδοικά σου”. “οἴμοι” ist “Ausdruck des Schmerzes oder der Verwunderung: weh, ach” [1. Gemoll Griechisch-deutsches Schul- und Handwörterbuch Wörterbuch], also korrekt übersetzt. Im Gegensatz zum anderen Vorkommen der Vokabel in Antigones zweiter Antwort: ” οἴμοι, καταύδα: πολλὸν ἐχθίων ἔσει”. Hier überträgt es Steinmann plötzlich mit “Nein”!? Was geht hier vor?

Auch Antigone ist bewegt vom Schmerz. Daraus macht Kurt Steinmann eine direkte Zurückweisung Ismenes. Nicht genug damit, er geht noch weiter. “καταυδάω” bedeutet nach Gemoll “poetisch: ansagen, verkünden”, nach Liddell & Scott [2. Liddell, Scott: An Intermediate Greek-English Lexicon, Perseus Project] “to speak out, speak plainly, Sophokles”. Von “ausposaunen” ist das weit entfernt. Heinrich Weinstock gibt die Wendung folgendermaßen wieder: “Oh! Rede nur!”.

Steinmann hat mit zwei ungerechtfertigten Wortübertragungen aus einer Frau, die mit der Schwester klagt und aus Enttäuschung über deren Kleinmut den Vorschlag, insgeheim zu handeln, zurückweist, eine Agitatorin gemacht.

Meine Bewunderung des Antigone-Films von von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet ist durch diese kleine Beobachtung nochmals gewachsen. Die beiden unterscheiden deutlich zwischen der griechischen Herkunft des Theaterstücks und der Gelegenheit, beim Rezitieren dieses Textes die Kluft zwischen deren Fremdheit und dem gegenwärtigen Verstehenshorizont wahrzunehmen. So kann auch die Jeanne d’Arc Option zu ihrem Recht kommen, wenn es denn sein muss.

Es ist freilich (auch) eine Geschmackssache. Der eine liebt Erdbeeryoghurt, der andere zieht Naturyoghurt vor und fügt – wenn die Saison gekommen ist – frischen Erdbeeren hinzu.

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