Markenname Wittgenstein

Das diesjährige Wittgensteinsymposium über “Reduktion und Elimination in Philosophie und den Wissenschaften” war ambitioniert und sehr gut besucht. Noch stärker, als im vergangenen Jahr, war das Interesse aus dem Osten, nah und fern. Das heißt: Polen, Tschechische Republik, Russland – aber auch Honkog, Taiwan und Japan.

Zur Eröffnung verursachte ein stellvertretender Sektionschef aus dem Wissenschaftministerium eine leichte Befremdung, als er den Wittgensteinpreis erwähnte, der mit dem Symposium gar nichts zu tun hat. (Es gibt den Wittgenstein-Preis des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung und den Ludwig Wittgenstein Preis der ÖFG.) Aber die Veranstaltung selbst war nicht besser.

Man könnte das heurige Symposium ein Anti-Wittgenstein-Symposium nennen. Einprägsam brachte das der bewundernswerte Patrick Suppes auf den Punkt:

Ich bin nun zum 4. Mal hier eingeladen und ich habe noch niemals einen ernstzunehmenden Satz über Wittgenstein gesagt.

Es ist ein einfaches ökonomisches Prinzip: Wer einen Markennamen besitzt, muss daran festhalten, um die Kundschaft nicht zu verwirren. Zum Thema “Reduktionismus” alleine kommen wenige Philosophen aus aller Welt nach Kirchberg. Da muss der Philosoph herhalten, der ein Kronzeuge gegen den Reduktionismus ist.

althergebracht

Noch eine Bemerkung zur “Blogologie”, genauer zur skeptisch-staunenden Verwunderung, die mich erfasst, wenn ich die angesprochenen reflektierten, technisch erweiterten und mit RSS-feeds verbreiteten Schreibformen betrachte. Vergangene Woche erhielt ich diese Mail:

Das Buch geht unverzüglich in Druck. Vertrag kommt in den nächsten Tagen. Beide Bücher werden etwa in der 29. Kalenderwoche (15.07.2008) erscheinen.

Es ist schon oft darüber geschrieben worden, dennoch eine Bemerkung. “unverzüglich” heißt hier etwas anderes, als wenn ich in einer Minute den Publish-Knopf drücke. Und auch das “Erscheinen” in der 29. Kalenderwoche hat eher etwas mit Frühlingserwachen und längerfristig angekündigten Besuchen zu tun, als damit, dass eine Mitteilung gemacht wird. Wie jetzt.

unbewußte Zahnschmerzen

Hier ein Beleg für die gestrige Behauptung. Wittgensteins “Diktat für Schlick” als zukunftsweisender philosophischer Text. Der 2. Absatz:

Wenn man eine Fähigkeit einen Zustand nennt, dann ist sie ein Zustand im Sinn der Physiologie oder der Zustand eines Seelenmodells. Die Aussage, daß dieser Zustand besteht, ist eine Hypothese. Der Gegensatz hierzu ist z.B. der Zustand der Zahnschmerzen. (Angenommen, wir wollten den Ausdruck “unbewußte Zahnschmerzen” so gebrauchen: ich habe unbewußte Zahnschmerzen soll heißen: ich habe einen schlechten Zahn, der mich nicht schmerzt. Diese Ausdrucksweise mag für manche Zwecke praktisch sein. Hat man aber damit Zahnschmerzen gleichsam an einem dunklen Ort entdeckt, wo man früher keine vermutet hatte? Wenn man nun zwischen bewußten und unbewußten Zahnschmerzen unterscheidet, und beide Zustände nennt, so hat das Wort “Zustand” in jedem dieser Fälle eine andere Grammatik. Vgl.: sichtbare und unsichtbare Farben.)

Moritz Schlick Gedenken

Vergangenen Donnerstag vor 70 Jahren wurde Moritz Schlick auf der Philosophenstiege der Universität Wien von einem geistig gestörten, eifersüchtigen Schülern erschossen. Dazu gab es eine Gedenkfeier im kleinen Festsaal, inklusive Vorstellung einer Werkausgabe durch das “Institut Wiener Kreis”.

Ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, dass dieser Tod dem Nachruhm Moritz Schlicks nicht schlecht bekommen ist. Ohne die Tragödie wäre er vermutlich ins Exil gezwungen worden und in den Vereinigten Staaten untergekommen. Er gälte als verdienstvoller Wegbereiter, aber der 70. Todestag würde vermutlich nicht feierlich begangen. Vor allem macht dieses Gedankenexperiment deutlich, dass es sich um eine eigenartige Überblendung zweier sehr unterschiedlich angelegter Tragödien handelt. Hier die persönliche Katastrophe, dort der Faschismus und die “Vertreibung der Intelligenz”. Das berührt sich in der Person Schlicks sehr oberflächlich. F. Waismann, sein Assistent, war Jude und Schlick als spiritus rector des Wiener Kreises wurde vom Austrofaschismus beschimpft. Die “tödliche Note” bekommt der Fall aber aus dem Eifersuchtsdrama.

Inhaltlich gab es wenig Anregung. Die Geste des schuldbewussten Übernehmens der Verantwortung für eine philosophiehistorisch wichtige Episode dominierte. (Ausgenommen die ungezierte Einleitung von Max Kothbauer und die Einbeziehung der Wirkungs-(Nicht)geschichte Schlicks in Wien durch Elisabeth Nemeth.)

Hätte ich einen Beitrag leisten müssen, so wäre ich mit Wittgensteins “Diktat für Schlick” aufgetreten. Da fehlen zwar die Reminiszenzen, dafür ist es große Philosophie.