Der junge deutsche Youtuber Robert Michel alias Rob Vegas ist vor ein paar Jahren durch die Medienwelt gegeistert, weil er einen Pseudo-Twitteraccount von Harald Schmidt angelegt hatte (@bonito.tv), der schon nach kurzer Zeit beachtliche Follower-Zahlen erreichte. Obwohl Michel regelmäig darauf hingewiesen hatte, dass er nicht vom echten Fernsehmoderator betreut wurde, erfreute sich der Twitteraccount höchster Beliebtheit, denn es gelang dem jungen Medienschaffenden den Stil des Entertainers überzeugend zu kopieren und deswegen wollten dessen Bewunderer weiterhin ihre “tägliche Dosis Schmidt”.
Ende 2015 ist eine von Michel verfasste Biographie im Goldmann-Verlag veröffentlicht worden. Gut lesbar steht darauf oberhalb des Titels: “Ich, Harald Schmidt”, die Warnung: “Vorsicht Fälschung”. Die Tautotologie im Titel verstärkt den Effekt der Warnung noch. Die Lebensbeschreibung basiert nach Michels Aussage, aufgrund der mangelnden Mitwirkung des Beschriebenen, ausschließlich auf kompilierten Anekdoten, die Schmidt in seiner Fernsehsendung zum Besten gab und die der Jungautor seinem eigenen Gutdünken nach in Relation zueinander setzte. Die dabei entstehenden Lücken im Lebenslauf wurden interpretativ gefüllt.
Nun befindet sich Harald Schmidt in einem Alter, in dem noch zu viele Seiten in der Biographie frei bleiben müssten. Zudem ist bekannt, dass ihm sehr daran gelegen ist, sein Privatleben geheim zu halten. Überraschenderweise hat der Fernsehunterhalter allerdings keine rechtlichen oder sonstige Schritte eingeleitet. Man sollte meinen, dass es ihm unangenehm sein müsste, wenn er als Mittel benutzt wird, um einem Youtuber zu mehr Bekanntheit zu verhelfen. Michel selbst verweist darauf, dass Schmidt in einem Radiointerview gesagt habe, dass er die Pseudo-Biographie begrüße, weil es zur Vernebelung seines Privatlebens beitragen würde.
Es ergeben sich hier einige Fragen. Auf drei dieser Fragen möchte ich ein wenig eingehen:
- Wer wird in der Pseudo-Biographie beschrieben?
- Wieso lassen sich Bewunderer wissentlich auf einen bekannten Identitätsklauer ein?
- Inwiefern dient die Biographie zur “Vernebelung” des Privatlebens von Schmidt?
Identität ist wie eine Baustelle. Sich die Geschichte der Baustelle (als wandernde heterogene Assoziation) anzusehen, ist etwas anderes als sich die Geschichte des Gebäudes anzusehen.
Wenn eine Verputzschicht nicht anziehen will, dann macht man sich auf der Baustelle darüber Gedanken, ob der Betonmischer richtig funktioniert. Ist dieser einwandfrei gewartet und fachberecht bedient worden, wenn das Mischverhältnis der Baustoffe stimmt und der Mischer trotzdem der Baumasse nicht die richtige Konsitstenz verleiht, dann richtet man sich an den Hersteller. Dieser prüft den Produktionsablauf und die beteiligten Betriebsmittel. Arbeiten auch diese einwandfrei, bringen aber trotzdem das falsche Ergebnis hervor, dann misstraut man den Kontrollmechanismen selbst, ist aber dann wiederum auf Kontrollsysteme angewiesen, welche die Kontrollsysteme kontrollieren, usw.
Dass nicht so leicht ist, Identität herzustellen, zeigt zum Beispiel eine aktuelle Fernsehserie auf Netflix, die “Making a Murderer“ heißt. Um das Ende der Serie nicht zu spoilen möchte ich nur eine Episode herausgreifen. Es ging darum festzustellen, ob in einem Mordfall als Beweismittel verwendete Blutspuren, die zweifelsfrei dem Angeklagten zugeschrieben werden konnten, wirklich belegten, dass dieser sich an einem bestimmten Ort befand. Es war unklar, ob die Blutspritzer von einer offenen Wunde des Angeklagten oder aus einer Blutprobenampulle stammten und von jemand dort platziert worden waren. Um den Unterschied festzustellen, musste ein chemischer Test entwickelt werden, der Spuren eines Konservierungsmittels anzeigen konnte, das zur Lagerung von Blutproben verwendet wurde. Dieser Test war, der Aussage einer Sachverständigen zufolge, aber nicht absolut zuverlässig, denn es konnte nicht festgestellt werden, ob der Test negativ ausfallen würde, weil die Probe keine Anteile des Stoffes enthielt, oder weil der Test nicht auf durch vorhergehende Spektrumseingrenzung unanzeigbar gemachte Messausschläge ansprechen würde hat. Man müsste einen Test entwickeln, um die Voraussetzungen zu prüfen. – Man kann sich vorstellen, dass dem Angeklager mulmig wurde, weil er einem potentiell äußerst langwierigen Prozess entgegensah.
Schlussendlich aber musste die Gerichtsverhandlung weitergehen. Der Richter war in der Position, den Prozess mit einem Ruck zum Stoppen zu bringen, indem er die Sachverständige unter Eid fragte: “Können Sie die Frage nach der Herkunft Ihrer Sachverständigkeit als Wissenschaftlerin gemäß mit Ja oder Nein beantworten?” Es handelt sich dabei dann um keine Frage nach den Tatsachen, sondern eher um eine Gewissensfrage. Es scheint, als könne man sich im Endeffekt nur auf “Zeugenaussagen” verlassen, anstatt Tatsachenberichte zu bekommen.
Nun sitzt man glücklciherweise in seinem Leben entweder nie, oder wenn, dann nur relativ kurz in einem Gerichtssaal. Weniger düster stellt sich die Geschichte rund um den Identitätsklau um Harald Schmidt dar. Allerdings nicht weniger interessant.
Die “DNS” des Biographietextes setzt sich zusammen aus Anekdoten von Schmidt und der Interpretationsgabe von Michel. Die Anekdoten wurden im Rahmen der Fernsehsendung präsentiert, aus dem Grund muss man annehmen, dass Michel hier das eigentlich bemerkenswerte Kunststück vollbracht hat, eine Biographie des “Meta-Schmidt” zu schreiben, d. h. eine Biographie der Person, so wie sie sich selbst in einer Fernsehsendung beschrieben hatte. Ein für Zuschauer produziertes Produkt wird dadurch, dass einer dieser Zuschauer es reflektiert, zu einem Ganzen komplettiert. Dieses Ganze ist sicher nicht eine Beschreibung von Harald Schmidt. Aber: Wer ist Harald Schmidt? Und wer außer “Zeugen” könnte diese Frage beantworten?
Dass die Identität Harald Schmidts in dieser Hinsicht “offen” bleiben muss, lässt es zu sich der zweiten Frage zu nähern: Wieso lassen sich Menschen wissentlich auf einen ausgewiesenen Identitätsklauer ein?
Die Bewunderer von Schmidt wollen nicht ihn, sondern sie wollen jemanden, der genauso ist wie er. Michels Gags auf Twitter und die Interpretationen, welche die Lücken im Lebenslauf des Beschriebenen schließen, stehen in einer Reihe mit den Gags und Interpretationen, die Schmidts sendungsverantwortliche Redakteure geschrieben haben. So bewunderswert das unterhaltende Talent des Moderators auch ist, vollkommen auf sich alleine gestellt wäre er nicht die Figur, die er selbst abgibt. Diese Figuration ist, wird die Baustelle ausgeblendet, äußerst instabil und ruht dann ganz auf der Überzeugung der Bewunderer.
Die Begeisterung, die Michel entgegengebracht wird, ist die Manifestation der Erzeugung des Harald Schmidt durch seine Bewunderer. So gesehen, hat der junge Autor die Offenheit der Identität Schmidts vergrößert; in Schmidts Identität ist jetzt mehr Platz.
Was bedeutet nun: “mehr Platz”? Die dritte Frage lautete: Inwiefern dient die Biographie Michels zur Vernebelung des Privatlebens von Schmidt? In Zeiten, in denen die “Überwachungskrake”, der “gläserne Mensch”, das “Ende der Privatsphäre” usw. propagiert werden, spricht die pointierte Aussage Schmidts für erstaunliche Gelassenheit. Es scheint auf den ersten Blick der Intuition zu widersprechen, die nahelegt, dass Privatsphäre den sorgfältigen Ausschluss von zirkulierenden Informationen bedeutet.
Aus der bisher dargestellten Perspektive auf die Identität jedoch scheint die Aussage schlüssig. Je mehr Informationen zugänglich gemacht werden, desto eher werden sich diese ineinader verstricken, sich widersprechen, “Kontrollsysteme” notendig machen, die auf Dauer scheitern, durch Bezeugungen gestützt werden und dann nur noch Gerede erzeugen.
In dem Moment, in dem ein Gebäude fertiggestellt ist, beginnt sein Verfall. Sobald die Identität festgestellt ist, wird ihre Passivität ersichtlch. Je mehr die Bewunderer von Schmidt diesen Verfallsprzess aufhalten, desto mehr verunmöglichen sie auch die Bestimmung dessen, was sie da eigentlich verfrüht restaurieren. Wenn man nichts preisgeben möchte muss man ständig irgendetwas preisgeben.
Was ist aber im umgekehrten Fall, also dann, wenn Schmidt seine Identität nicht vernebeln will? Wenn der echte Harald Schmidt ohne Ausweis an einer Ländergrenze aufgehalten wird, kann streng genommen rein durch “Tests” nicht festgestellt werden, ob er der ist, der er vorgibt zu sein. Im Endeffekt braucht es dafür menschliche oder verbriefte Zeugen (Zeugnisse). Dass diese “Zeugen” nicht immer verlässlich sind, weil sie zum Beispiel eigene Interessen vertreten, zeigt der Fall Michel. Wer ist also der Beschriebene? Mit Sicherheit nicht Harald Schmidt. Aber: Wer ist Harald Schmidt? Die Tautologie: “Ich, Harald Schmidt”, wohl als Überzeichnung intendiert, drückt ein “Zuviel” aus, das anscheinend der Person ein Namensschild verpasst, damit man diese erkennt.
Ein etwas absurdes Gedankenspiel: Stellen wir uns einen wirklich unangenehmen Zöllner vor, dem Schmidt ohne Ausweis an der Grenze begegnet. Unangenehm ist er deswegen, weil er ein grotesk überzogenes Pflichtbewusstsein hat, das sich in der beschriebenen Situation als ausgeprägtes Dissentertum bemerkbar macht. Egal was Schmidt anstellt, der Beamte hat immer Zweifel an dessen Identität. Es ist ein Gedankenbeispiel, also treiben wir das ganze so weit, dass der Zollbeamte eine Verschwörung vermutet und die Familie und Mitarbeiter Schmidts, ebenso wie die Beamtin im Einwohnermeldeamt für Schauspieler, die Situation für eine Inszenierung hält.
Für sich weiß Schmidt, dass er die Person ist, die er vorgibt zu sein. Und für alle die Zeugnis ablegen, dass er es ist, ist er es auch. Im Identitätsbegriff von Schmidt sind das die Nebellichter.
Je mehr Möglichkeiten zur Kontroversenbildung sich entwickeln, je mehr man über sich preisgibt, desto mehr werden die vielen Vermittlungen des Preisgebens dazu führen, dass die Identität unklar wird, sich ein Interpretationsraum vergrößert. Übrig bleibt nur der Glaube an die Identität der Person. Dieser Glaube betrifft das Gebäude und nicht die Baustelle und füllt den Identitätsbegriff auf diese Weise restlos aus.