“… dieser ehemalige Heimwehrführer …”

j_raab

In einer Radiosendung über “Österreichs hausgemachten Faschismus” habe ich Emmerich Tálos die Frage vorgelegt, wie es denn kommen konnte, dass die 2. Republik, anders als Deutschland, von Politikern mit aufgebaut wurde, die nach seiner Nomenklatur Faschisten waren. Julius Raab z.B. war Minister im letzten Kabinett Schuschnigg.

Ernst Fischer, Parlamentsabgeordneter der KPÖ zu Beginn der 2. Republik, gibt eine deutliche Antwort: Julius Raab war kein Faschist.

ef1-cut [1. Ernst Fischer Das Ende einer Illusion S. 218]

Emmerich Tálos hat gute Gründe dafür angeführt, das Dollfuß-Regime als “Austrofaschismus” zu bezeichnen[2. Das austrofaschistische Herrschaftssystem. Österreich 1933 – 1938, Lit Verlag, Wien 2013]. Woher kommt meine Zurückhaltung angesichts dieser Zuschreibung? Sie hat mit dem Verschwimmen der “alten Kategorien” zu tun, von denen E. Fischer spricht. Sie ergibt sich zum Beispiel daraus, dass ein Etikett wie “Faschismus” für bestimmte Verhältnisse zutreffen, in weiterer Folge aber den Sinn verändern kann.

Ein Beispiel ist das “Anhaltelager” Wöllersdorf. Bis vor Kurzem schien mir das eine österreichische Variante von Konzentrationslagern. Pia Schölnberger hat in Erinnerung gerufen, dass 73% der Inhaftierten Nationalsozialisten waren. Seither bezeichne ich das Lager nicht mehr als KZ. Ähnlich könnte man bezüglich des Austrofaschismus argumentieren. Gehen ihm eventuell unter Berücksichtigung der politischen Entwicklungen die Faschisten aus?

Ende der 60-er Jahre hat Ernst Fischer die Zersetzung der Frontlinien festgehalten, die mit den besagten Etiketten markiert worden sind. Er hat eine drastische Operation am eigenen Leib durchgeführt:

“Angesichts des aufsteigenden Faschismus und der Selbstentmannung der
Demokratie wurde er zum Antidemokraten …”

“Er ging nach Moskau, glaubte wie Millionen anderer Kommunisten an
Stalins Genialität und weltgeschichtliche Größe. Obwohl er sich nicht
dafür hielt, war er ein Stalinist.”[3. Ernst Fischer Erinnerungen und Reflexionen” S.11]

War er also Stalinist? Es geht hier nicht um die Frage, ob er eventuell später keiner mehr gewesen ist. Sondern darum, ob ihm für den früheren Zustand unbedenklich die Etikette “Stalinist” angeheftet werden kann. Ich antworte: Nur unter der Bedingung, dass die Person, welche das Etikett austeilt, sich darüber im Klaren ist, dass sie damit den Gang der Geschichte unterbricht. Das kann man schon machen, aber zuvor empfiehlt sich ein Prüfverfahren:

Fischer-Ich [4. Ernst Fischer Erinnerungen und Reflexionen” S.7]

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P.S.: Zugegeben: Nach dieser Logik ist auch zu fragen, ob und inwiefern die in Wöllersdorf internierten Nazis so zu bezeichnen sind.

4 thoughts on ““… dieser ehemalige Heimwehrführer …”

  1. “Obwohl er sich nicht dafür hielt, war er ein Stalinist.”

    Ich versuche im Folgenden eine Annäherung an den obigen Satz (mit wenig bis keinem Wissen über die Biographie von Ernst Fischer) und gehe zu generellen Überlegungen über:

    1. Es handelt sich bei dem Satz um eine auto-biografische Beschreibung von Ernst Fischer zu einer bestimmten Zeit, die mehr als ein Label einsetzt. Er kombiniert den Versuch einer Außensicht (Verwendung der 3. Person) mit einem Wissen, das man nur aus der Innensicht haben kann (Er hielt sich nicht für einen Stalinisten). Der Satz macht deutlich, dass die Innensicht kein hinreichendes Kriterium dafür ist, wer man ist. Während ein Teil des Satzes nur von der Distanz verifiziert werden kann, kann der andere nur unter Berücksichtigung der Innensicht verifiziert werden. Egal von wo man kommt (von innen oder von außen), man muss eine Entscheidung treffen, die sich nicht direkt aus dem, was man weiß, ableiten lässt. Das Wissen darüber, wer jemand ist, ist immer unvollständig. “Wer bist du? ist also eine unentscheidbare Frage. Und das sind die Fragen, die wir, d.h. mit eigenem Risiko, beantworten.
    2. Man kann den Satz auch als die Zusammenfassung einer persönlichen Erkenntnis sehen:
      • “Ich weiß, dass ich kein Stalinist sein wollte.” (Selbst-Vergewisserung)
      • “Ich war doch bitte kein Stalinist! Oder doch?” (Verdacht)
      • “Ich war ein Stalinist” (Eingeständnis)
    3. Die Verwendung des Labels Stalinist: Wie kann sie den Lauf der Geschichte unterbrechen? Erstens so, wie jedes Label in ein Kontinuum eingreift und es zerhackt.
    4. Zweitens, blendet die Verwendung eines Labels die schwammige Situation aus, in der Menschen üblicherweise Entscheidungen treffen:
      • Mit jeder Handlung konkretisiert sich etwas von den Möglichkeiten, die ich vor mir “sehe”. Indem ich eine herausgreife und realisiere, verändere ich damit nicht nur den Lauf der Welt, sondern konkretisiere mich außerdem. Unter Einfluss von meinem Umfeld, von spontanen Regungen, und allerlei, das mir gar nicht klar ist, setze ich Handlungen. Manche Handlungen verändern “meine Identität” (was dafür im Rückblick gehalten wird), manchen bestätigen sie, und andere betreffen sie gar nicht.
      • Die Vorstellung, eine Liste von Möglichkeiten zu sehen, ist bereits eine Abstraktion. Tatsächlich liegen die Optionen in vielen Fällen gar nicht distinkt und klar vor mir, genauso wenig, wie ich mir selbst vorliege.
      • Nicht nur, dass ich mir nicht selbst vorliege, auch die Umwelt, auf die ich einwirke, ist schwer vorherzusehen. Das heißt: Ich treffe meine Entscheidungen mit Hilfe von unvollständiger Information über die Auswirkungen der Handlungen auf meine Umwelt.
    5. Als Geschichtsschreiberin wird man nicht anders können als Labels zu verwenden. Und genauso als Autobiograf. Man wird sich festlegen müssen, so wie man sich in der (eigenen) Vergangenheit, die man untersucht, festlegen muss. Das muss nicht gleich Eindimensionalität bedeuten. Der Satz “Obwohl er sich nicht dafür hielt, war er ein Stalinist” tut zweierlei: Er weist auf die divergierenden Momente der Person hin -, und macht Ernst mit der Vorstellung, dass zwar am Ende jemand anders zu beurteilen hat, ob die Bemühungen, (nicht) so und so zu sein, erfolgreich waren, doch man selbst möchte/muss dieses Urteil vorwegnehmen (darum geht man in die 3.Person-Perspektive und eigentlich auf Distanz zu sich selbst, was ein Außenstehender später als Kontinuität oder Bruch deuten kann) und einen Schritt ins Ungewisse wagen. Diese Vorwegnahme ist ein Regulativ, eine Lektion, die man aus bisherigen Erfahrungen gesammelt hat, und die das weitere Handeln beeinflussen.
    6. Die Beurteilung des Eigenen von anderen ist wichtig, aber ebenso zweifelhaft und fehleranfällig wie die Vorwegnahme des Urteils über sich selbst. Es gibt eine Distanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart, und eine zwischen einem selbst und den anderen. Wie soll ein Outsider, wissen, wie es im Inneren ist; wie ein Heutiger, wie es früher war?
    7. Aber geht es darum, das Vergangene zu konservieren, so genau wie möglich? Geht es darum, alle Gedanken und Gefühle einer Person nachzuvollziehen? Nein. Wir kommen doch immer mit einem Interesse an die Vergangenheit heran. Und begegnen einem Menschen mit einer bestimmten Perspektive, die ihn – für eine Weile – auf unsere Vorstellung reduziert.
    8. So wie wenn jemand für jede Entscheidung, die er trifft, eine Bibelstelle zitiert. Wie weiß er etwa, dass diese Bibelstelle auf diesen einmaligen Moment heute zutrifft? Es geht um den Sinn, den er hinüberretten will. Doch erstens, was ist der Sinn? Und zweitens, (wie) kann man ihn hinüberretten? Es braucht einen Schritt ins Ungewisse, der riskante Weg zwischen Ignoranz und Illusion.

    Inspired by:

    • Friedrich Waismann: Wille und Motiv. Zwei Abhandlungen über Ethik und Handlungstheorie. Stuttgart 1983
    • Michel de Certeau: Der Mythos von den Ursprüngen. In: GlaubensSchwachheit. Stuttgart 2009. S.61-76
  2. Ich lese gerade “Objective Troy: A Terrorist, a President and the Rise of the Drone”, ein Buch in dem Scott Shane den Werdegang und das Ende des jemenitischen Imams und Dschihadisten Anwar al-Awlaki verfolgt. Thomas Nagel hat es unter dem Titel
    Really Good at Killing im London Review of Books rezensiert.

    Die irritierende Pointe dieses Lebenslaufes ist im vorliegenden Zusammenhang, dass sich bei al-Awlaki die Karriere Ernst Fischer gerade umdreht. Er wurde vom (einigermaßen) moderaten Imam, der 9/11 öffentlich verurteilte, zu einem in Jemen versteckten “Drahtzieher” von Attentaten, bis eine Drohne ihn tötete. In diesem Fall muss man also sagen: der Satz “Er war ein friedliebender Muslim” hat nicht standgehalten. Nicht nur der mit Zweifeln behaftete Weg zur Selbstfindung, sondern auch die Radikalisierung, die alle Zweifel verwirft, bleiben in A. Kirchners “Schritt ins Ungewisse” offen.

    Das ist nicht als Relativierung der bewunderungswerten Überlegungen Ernst Fischers gedacht. Die Balance kippt auf seine Seite, weil seine Formulierungen eine Analyse erlauben, wie Andreas sie anstellt – im Gegensatz zur Nekrophilie des Aufruf , inklusive der Anstiftung, zum Mord.

  3. Ein Etikett kann sich selbst nicht lesen. Mir gefällt die Dreifalt: Verdacht, Vergewisserung und Geständnis. Es gibt einen Weg, ein Etikett vorbestimmt, bestimmt und bestimmbar zu machen. Die drei Aspekte “Verdacht”, “Vergewisserung” und “Geständnis” müssen dafür zuerst durch eine Art Durchgängigkeit verbunden werden. Mit “Durchgängigkeit” meine ich eine Art, die drei Aspekte auf eine Art zu verbinden, die einzigartig für einen bestimmten Sachverhalt ist. Das kann, etwas abstrakt, anhand der Eigenschaften der Zahl 9 gezeigt werden.

    Die Zahl 9 hat unter anderen drei bemerkenswerte Eigenschaften, die sie mit keiner anderen Zahl innerhalb des Dezimalsystems teilt. 1. Ist die Quersumme einer beliebigen Zahl durch 9 teilbar, ist die Zahl durch 9 teilbar, 2. die einstellige Quersumme jeder beliebigen mit 9 multiplizierten Zahl ergibt 9 und 3. die Quersumme einer beliebigen Zahl zu der 9 addiert wurde, gleicht der Quersumme der Ausgangszahl.

    Damit sind “Verdacht”, “Vergewisserung” und “Geständis” angesprochen. Im ersten Fall kann der Verdacht bestätigt werden, dass eine beliebige Zahl durch 9 teilbar ist, im zweiten Fall erfolgt die Vergewisserung, dass jede mit 9 multiplizierte Zahl die einstellige Quersumme 9 besitzt und im dritten Fall kann das Geständnis entlockt werden, welche Quersumme eine beliebige Zahl besitzt. Die ersten beiden Formen sind auf das “Innen” bezogen”, die dritte Form auf das “Außen”, da damit eine Äußerung getätitigt wird; es wird ein Angesprochener vorausgesetzt und etwas verraten.

    Die drei Eigenschaften der Zahl 9 vereinen “Verdacht”, “Vergewisserung” und “Geständnis” wie keine andere Zahl im Dezimalsystem. Aus diesem Grund ergibt sie eine solidere Basis für das Zusammenspiel der drei Momente wie andere Zahlen; eine Art Durchgängigkeit.

    Die “Äußerung” verlangt ein korrespondierendes Außen. Es kann angenommen werden, dass In diesem Außen ein ähnlicher Prozess des Verdachts, der Vergewisserung und der Äußerung abläuft, allerdings ist die Äußerung in dem Fall der Antwort des Außen eine andere Art des Geständnisses: ein Zugeständnis. Auf dieses Geständnis als Zugeständnis wird wiederum reagiert, indem der Prozess, der durch Verdacht, Vergewisserung und Geständnis hindurch läuft, daran anschließt, usf. Eine Durchgängigkeit wird erreicht, indem sich der vorbestimmte, bestimmte und bestimmbare Weg, so wie er anhand der Zahl 9 als Beispiel dargestellt worden ist, nicht nur durch den angedeuteten Prozess, sondern auch durch Äußerungen und Zugeständnisse zieht. Es liegt auf der Hand, dass es hier viele Punkte gibt, an denen sich ein Bruch ereignen kann, der die Durchgängigkeit stört. Viel öfter als innerhalb des “internen” Prozesses (Verdacht, Vergewisserung) kommt es zwischen Aussagen und Zugeständnissen (Affirmation oder Ablehnung) zu Brüchen, da nur hier Wahrheitswert zirkuliert. Dass dieser dritte Aspekt besonders im Vordergrund steht, wenn es um die Ereignung von Brüchen geht, hat damit zu tun, dass ein Etikett sich selbst nicht lesen kann.

    Eine Mauer weiß nicht, ob sie ein- oder aussperrt. Genausowenig weiß ein Mensch, der innerhalb von Grenzen wohnt, ob er ein- oder ausgesperrt ist. Anwar al-Awlaki wollte, so weit es eine oberflächliche Recherche zeigt, in seiner Tätigkeit als Imam eher zwischen den Fronten vermitteln, als eine radikale Position einnehmen. Allerdings radikalisierte sich sein Denken und seine Aussagen, nachdem er die Aktionen der Amerikaner im Jemen zur Kenntnis nahm (einem Land, dem die USA nie offiziell den Krieg erklärt hatten, das sie aber so behandelten, als gäbe es Krieg). Dieses Ereignis in der Geschichte des Jemeniten, das damit verbundene erlangte Wissen, die Emotionen, die mit den Taten verbunden waren und erzeugt wurden, Überzeugungen und die eigene Gesinnung, die sich wandelte, usw., hat ihn dazu gebracht den Verdacht zu hegen, dass sich da etwas ereignet, dem er kein Zugeständnis machen kann. Die Vergewisserung, die Rückkehr in sein Land und das Erkennen des Elends, das die ungerechtfertigten amerikanischen Bombardierungen bringen führten ihn schlussendlich zu einem Geständnis, einer Äußerung: die Weigerung der Gutheißung des Tuns der Amerikaner (und anderer Westmächte). Eine Äußerung verlangt einen Adressat. Auf der Seite dieses Adressaten wurde der Verdacht gehegt, es handle sich bei al-Awlaki um einen Islamisten. Die Vergewisserung wurde dadurch erlangt, dass dafür gesorgt wurde, dass der unter Verdacht Stehende dem Verdacht gerecht wird (die seltsame, relativ neue(?) Logik des sich-Feinde-Machens der Militärindustrie). Weil dafür gesorgt war, konnte dem Dschihadisten mit Bestimmtheit ein Zugeständnis gemacht werden, das sich am Höhepunkt des Konflikts der beiden Parteien dadurch ausdrückte, dass ein Todesurteil den Adressaten des Zugeständnisses erreichte. Ab dem Zeitpunkt des Zugeständnisses war al-Awlaki auch vorher schon ein Terrorist. Und als er es noch nicht war wurde daran gearbeitet, dass er es wird. Das Etikett hält – ab einem bestimmten Zeitpunkt auch schon vorher.

    Die Beziehung zwischen Anwar al-Awlaki und den amerikanischen Behörden erreichte ihre Vorbesimmtheit, Bestimmtheit und Bestimmbarkeit, als al-Awlakis Geständnis mit dem Zugeständnis der Amerikaner übereinstimmte. Von da an gab es einen bestimmten, sich selbst erfüllender Ablauf, der schlussendlich damit endete, dass die Beziehung von einer Seite abgebrochen wurde. Die Auseinandersetzung begann also mit einem Bruch auf Seiten al-Awlakis, verlief über einen vorbestimmten, bestimmten und bestimmbaren Weg und endete mit einem erneuten Bruch: dem Tod des Jemeniten. Dieser Bruch wird neuerlich als Möglichkeit des Verdachtsmoments anderer von manchen erneut aufgegriffen und die der Ablauf begnnt von vorn. Der Abarbeitung einer Tötungsliste folgt immer eine noch längere Liste.

  4. Nur kurz:
    Wir hatten bislang den ehemaligen Heimwehrführer Julius Raab, den nicht-wirklich Stalinisten Ernst Fischer, und den doch nicht friedliebenden Imam Anwar al-Awlaki.

    Auch im arabischen Raum gibt es Bekehrungsgeschichten: der zweifelnde Fundamentalist Mansour Al-Nogaidan zerstörte Videoläden in Riyadh und kam ins Gefängnis. Dort wurde er durch verschiedenste Lektüre, die ihm seine Schwester bei den Besuchen mitbrachte, moderat:

    “I joined a hard-line Salafi group.
    In 1991, I took part in firebombing video stores in Riyadh and a women’s center in my home town of Buraidah, seeing them as symbols of sin in a society that was marching rapidly toward modernization.

    Yet all the while, my doubts remained.”

    http://www.washingtonpost.com/wp-dyn/content/article/2007/07/20/AR2007072001808.html

    Heute ist er Executive Director im Al Mesbar Studies and Research Center in Dubai.
    ”The core of what I used to write is that no one owns the truth,” he said. His fight is with the uncritical, ideological religious education inculcated in Saudi society.

    http://www.nytimes.com/2004/03/07/magazine/the-jihadi-who-kept-asking-why.html?_r=0

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