Ein Kuchenstück macht Furore

Sie kauft ein Stück vom Waldviertler Guglhupf, ein Riesenstück. Es würde reichen für drei, denke ich. Sie wirkt gar nicht so hungrig, so als würde sie das Stück gar nicht für sich kaufen. Sie ist wahrscheinlich Mitglied des Pfarrgemeinderates, denke ich.

Die Verkäuferin wird plötzlich unruhig. “Jetzt geh’ raus. Verschwind! Du hast schon bekommen” faucht sie über den Tresen mit den vielen Kuchen. Aber er geht nicht weg – ein hochgeschossener, schwarzhaariger Noch-nicht-Mann, der mit einem leisen Lächeln den leer gegessenen Plastikteller über den Tresen zu reichen versucht. Provokant.

Es ist plötzlich ganz still, und die Pfarrgemeinderätin sagt laut: “Geben Sie ihm. Ich zahle, was er will.” Der Verkäuferin ist es peinlich. “Nein, das geht nicht!”. Das will Chefin nicht. Wir sollen geben, sagt Chefin. Aber nur einmal.” Sie nimmt den Plastikteller, legt ohne Nachfrage an den Hungrigen ein Stück Kuchen drauf, reicht den Teller schweigend zurück.

Die Pfarrgemeinderätin will zahlen, da mischt sich ein älterer Mann aus der Warteschlange ein: “Sie lügen alle. Alle lügen sie.” Wie kommt er auf Lüge, denke ich. “Das können wir uns noch leisten”, sagt die Pfarrgemeinderätin, “Hunger braucht hier niemand zu haben.” “Aber sie lügen ja nur.” Die Verkäuferin reicht das Geld, das sie für das Extrakuchenstück bekommen hat, zurück. “Das will Chefin nicht. Chefin ist sozial.” Ich komme dran, verlange meinen Lieblingskuchen und dass ich den zusätzlichen Kuchen bezahlen darf.

Doch die Verkäuferin bleibt dabei: “Ich bin selber Ausländerin. Ich sage meinen Kindern: Ihr müsst wissen, wie ihr euch benehmt. Der hat kein Benehmen. Wissen Sie, das ist Bettelmafia. Die sollen aufhören. Schau’n Sie draußen den Schwarzen, der Augustin verkauft. Der ist höflich. Der weiß, wie man sich benimmt.”

Kira Euklid

 

 

Die Begebenheit kann als Spiegel der Verhältnisse dienen, die seit der Migrationsbewegung 2015 akut geworden sind. Bruchlinien eingespielter Versöhnlichkeiten zeichnen sich ab. Der sozio-ökonomische Ort der Sprecherinnen (m/w) ist leicht zu erkennen. Dem folgenden Versuch, aus dem Vorfall eine Lehre zu ziehen, liegen drei Annahmen zu Grunde.

  • Jede Person dieses diskursiven Szenarios steht für eine unbestreitbare Lebenserfahrung. Keine hat mit ihrer Artikulation unrecht.
  • Alle Beteiligten operieren auf zwei unterschiedlichen Ebenen. Sie vertreten einen persönlichen Standpunkt und nehmen, ob sie wollen oder nicht, auch eine Stellung zur Gesamtsituation ein.
  • Die eklatante Asymmetrie der Sprech- und Handlungsoptionen ist nicht – aus guter Absicht – antizipatorisch zu beschönigen.

Aus diesen Annahmen ergeben sich zwei Schlussfolgerungen. (1) Die beschriebenen Versuche, die Interessenskollision zu beheben, stehen einander im Weg. (2) Die Lösung dieser Blockade gibt es nicht. Die Beklemmung, welche die Begegnung am Verkaufstresen auslöst, lässt sich nicht mit einem Rezept beheben, das vorgibt, wie es richtig geht.

Vier Lösungsversuche fallen auf die Verliererseite. Die sprachlose, subversiv provokante, Hilflosigkeit des Bettlers verursacht den Konflikt, zu seiner Bewältigung trägt sie nicht bei. Ihr Gegenbild ist die Höflichkeit des Bedürftigen, der sich zu benehmen weiß. Sie ist ein klügerer Versuch, zum Ziel zu kommen, doch sie übernimmt die Deklassierung, die Hilfesuchenden zugedacht ist. Sie vermeidet den Ärger des einheimischen Provos, der seinerseits die dritte Defensivposition besetzt. Die Begebenheit zeigt es paradigmatisch: er ist nicht in der Lage, vernünftig zu argumentieren. Mit Lüge hat die Szene nichts zu tun. Emotionalisierungen sind wirksam, aber nicht konsensfähig. Zuletzt die Verkäuferin, die den Anweisungen der Chefin und/oder der Kundinnen folgt. Auch daraus ergibt sich keine Perspektive für die Auflösung des Konflikts.

Bleiben die Vertreterinnen der aufgeklärten Zivilgesellschaft. Sie unterscheiden sich von den anderen Beteiligten in einem markanten Punkt. Wer „Alle lügen“ sagt, macht aus seiner Empörung ein Pauschalurteil; wer sprachlos den Plastikteller hinschiebt, macht aus seinem Bedürfnis einen bedingungslosen Appell. Die Vertreterin im Pfarrgemeinderat weiß es besser. Sie unterscheidet zwischen sich als Einzelperson und ihrem Blick aufs Ganze. Er zeigt ihr, dass die richtige Vorgangsweise nicht darin bestehen kann, die eigene Position zu verabsolutieren. Sie sieht, dass im Zeichen der – hic et nunc – irreparablen Asymmetrie ein temporärer Ausgleich geschaffen werden kann. „Eine Spende lindert die Not.“ Das klingt nach Phrase und so gar nicht nach Gerechtigkeit. Dennoch ist es diese Maxime, die „der herrschenden Klasse“ ermöglicht, mit Blick auf ihr Ganzes immer wieder Benachteiligte auf ihre Seite zu ziehen.

Diese Option ist menschenfreundlich und dennoch unfair. Aber was will man mehr? Das ist eine bittere Frage. Wie kann eine Lösung aussehen, in der die Asymmetrie wirksam beseitigt wird? Der eine Schritt ist vielversprechend: Denke daran, dass alle Menschen gleiche Rechte haben. Der zweite Schritt ist, danach entsprechende Verhältnisse herzustellen. Nur leider ist dabei bisher immer nur Stückwerk herausgekommen. Menschen torpedieren die Gleichberechtigung von Menschen quer durch die Geschichte. Eine Reaktion auf dieses Faktum ist: „Jetzt erst recht“. Das ist der Schritt von Szenen siehe Kuchenkauf zur Welt der Postulate. Es ist eine hochgemute Realitätsverweigerung nach der Parole „Weil nicht sein kann, was nicht sein darf“. Verankert ist dieser Satz in der Parteinahme für eine vernünftige Lösung, sei sie auch „idealistisch“.

Es ist degoutant, hier von „Gutmenschen“ zu sprechen. Die selbsternannten Pragmatiker, die nicht „an das Gute im Menschen“ glauben, bleiben die Antwort auf das Dilemma schuldig und bieten stattdessen aggressive Stichelei. Allerdings: die Ratlosigkeit ist nicht zu leugnen. Ich schlage vor, sie darauf zurückzuführen, dass die Frage zu allgemein gestellt ist. Der Ausfall kommt daher, dass ein Rezept erwartet wird, wie ein Täter oder eine Täterin in einem herkömmlichen Krimi. So eine Antwort gibt es nicht. Vorgaben für globale Gerechtigkeit sind einem Rezept vergleichbar, in dem es heißt: „Nehmen Sie das Kochgut, erhitzen Sie es je nach seiner Beschaffenheit, und würzen Sie nach Geschmack.“ Es fehlen die Details. Lösungen sind möglich, aber es empfiehlt sich, aus Respekt vor den dabei offen bleibenden Fragen, von großen Tönern abzusehen.

Eine Teilnehmerin an der Begebenheit lädt, vielleicht, den ungezogenen Burschen, die Pfarrgemeinderätin, den defekten Lügendetektor, den Augustin-Kolporteur, die Verkäuferin und ihre Chefin dazu ein, bei ihr einen Kuchen zu backen.

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