wahre Empfindungen

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Kostka Tivadar Csontváry

In der letzten Vorlesungsstunde zu Big Data bezog ich mich unter anderem auf einen Text Christian Geyers aus der FAZ vom 13.1.2016. Er registriert die Verunsicherung durch zahlreiche Metadiskussionen zum Flüchtlingsproblem und die (vergebliche) Suche nach elementaren Bildern und Geschichten. Der Anlass seiner Überlegung ist das Bild hungernder Kinder in Madaya, Syrien. Wann, wenn nicht hier, sollte es Gewissheiten geben. Jedoch:

Unser Albtraum ist, dass wir solche Albträume nur in abgeleiteten, von der Deutungsmaschinerie erhitzten Kategorien wie Fluchtursachen, Einzelfällprüfung und Kriminalitätsstatistik wahrzunehmen gewöhnt sind. Unser Albtraum ist, dass wir auf diese Raster angewiesen bleiben, soll “Syrien” uns überhaupt betreffen können.

Beim Versuch, die Plausibilität dieses Gedankens der gelinden Verzweiflung angesichts der durchgängigen Vermittlung des Unmittelbaren, zu beschreiben, unterbrach mich ein Kollege mit dem berechtigten Einwand. “Wir wissen doch mittlerweile – und diese Vorlesung hat dazu beigetragen – dass es keine Unschuld der medialen Vermittlungen gibt. Alles ist präformiert. Das ist doch wohl die Lehre davon, dass es keine Rohdaten gibt.” Und darum auch keine klinisch sauberen Empfindungen, auf die man sich berufen könnte.

“Die Stunde der wahren Empfindung” (Peter Handke) kann nicht schlagen. Ein kurzer Blick in aktuelle Debatten über “emotions” zeigt, dass deren Rolle im Erkenntnisprozess zwar zunehmend gewürdigt wird, doch in der Regel in vorbereitender und unterstützender Funktion. Wenn man mit “Wahrheit” nicht eine Erleuchtung meint, die von jenseits der Argumentationsmöglichkeiten kommt, bleibt die Rede von “wahren Empfindungen” eine Gestikulation.

Was tun mit meiner Absicht, Christian Geyers “Albtraum” zumindest verständlich zu machen? Eine mögliche Formulierung scheint mir “unschuldige Empfindungen” zu sein. Auch über die Behauptung, es gäbe so etwas, kann diskutiert werden. Das setzt jedoch, in einer seiner vielen Varianten, den Glauben an Erbsünde voraus. Gesetzt dagegen der Fall, wir verfügten über ein (einigermaßen) konsolidiertes Sprachspiel der Schuldzuweisung, dann erhält “unschuldig” darin einen guten Sinn. Und den könnte man in Anspruch nehmen, um zu beschreiben, was einen bei den genannten Bildern bewegt.

Empfindungen sind in diesem Zusammenhang keine Begründung für irgend etwas. Aber sie können in die Diskussion eingebracht werden, ohne dass man sich anhören muss, sie seien manipulativ.

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