Eine Frau mit Kopftuch, und Waffe; auf der Haut arabische Schriftzeichen. Von wo kommt dieses Bild? Vom IS-Propaganda-Magazin Dabiq?
Es findet sich am Titelblatt einer Ausgabe der Hochglanzbroschüre Wespennest von 2005 und erregte meine Aufmerksamkeit bei der Lesung “Stimmen aus dem Iran“:
Es handelt es sich um eine Photographie in der Reihe Women of Allah aus den 1990er-Jahren, von Shirin Neshat und ist eine Auseinandersetzung mit der Islamischen Revolution im Iran. Verstärken oder durchkreuzen diese Photos die Stereotype vom Orient (fanatisch, gewaltbereit, unterdrückt, rückständig, exotisch)? Die Photo-Serie ist ein eigenes Thema für sich. Mojgan Khosravi hat dazu 2011 eine Masterarbeit verfasst.
Das Titelblatt gibt jedenfalls einen Hinweis auf orientale Eigenheiten in unserer Vorstellung. Was fängt man damit an? Das Fremde kann anziehend wirken, oder erschreckend, oder beides. Wie geht man damit um, wenn die Vorstellungen, die man durch Medien und Lektüre vom Orient gebildet hat, auf Situationen im Alltag treffen, und man mit Menschen in Begegnung kommt, die aus dieser (vorgestellten) Region kommen?
Mögliche Haltungen:
- Abwertung: “Eure Religion is primitiv. Wir haben unsere Lektion schon bei den Kreuzzügen gelernt. Der Orient ist jedoch um Jahrhunderte hinten nach. Noch heute muss darüber argumentiert werden, ob Sklaverei dem Koran nach erlaubt ist.”
- Überhöhung: “Wir im Westen haben schon lange vergessen, dass Glaube ein gesellschaftlicher Auftrag ist. Im Orient durchdringt die Frömmigkeit das ganze Leben, im Westen, wenn überhaupt, ein paar Tage im Jahr.”
- Kompromiss: “Jedem seine Wertvorstellungen. Wir sollten friedlich zusammenleben, und fordern, dass die Menschenrechte eingehalten werden.”
- Konkurrenz: “Zeig mir, wie ihr mit Ungläubigen umgeht – und dann vergleichen wir mit meiner Religion.”
Vor allem die letzte, vergleichende Haltung tritt in den aktuellen Debatten in den Hintergrund. Man überspringt den Schritt, vom anderen zu fordern, sich zu messen. Entweder weil man meint, dass man mit Fundamentalisten gar nicht mehr diskutieren kann, oder weil man fürchtet, selbst als Fundamentalist abgestuft zu werden.
Vor diesem Hintergrund der möglichen Haltungen und der Lektüre der genannten Zeitschrift folgen nun:
- 1. Eine Ergänzung zur Reconquista, der “Rückeroberung” des muslimischen Spaniens durch christliche Heere, die in den beiden letzten Beiträgen von Herbert Hrachovec (über Kreuzzüge und Dschihad) vorkommt
- 2. Ein Erfahrungsbericht zu konkurrierenden “Glaubenssystemen”, auf einer weniger existenziellen Ebene, und zwar in der Community von Smartphone-Entwicklern. Apple iOS oder Google Android?
1. Rückeroberung?
Herbert Hrachovec schreibt:
“Islamische Heere haben einen Angriffskrieg gegen Europa geführt. Die Kreuzzüge fallen mit der Bewegung der Reconquista zusammen. Das legitimiert sie keinesfalls, aber es heisst, dass sich in diesen kriegerischen Abläufen, wenn man schon mit Kategorien des Mittelalters operiert, keine Partei als unschuldig bezeichnen kann.”
Soll man beide Parteien also als schuldig bezeichnen?
Der Schriftsteller Ilija Trojanov schreibt im Artikel “Europas verdrängte Wurzeln” im Wespennest über Al-Andalus (vom 8. bis zum 15. Jahrhundert unter muslimischer Herrschaft), dass es ein “intensives, oft fruchtbares Miteinander von Muslimen, Christen und Juden” gab. Man soll außerdem nicht von einer Fremdherrschaft sprechen, weil der Islam ebenfalls zu Europa gehört.Unter muslimischer Herrschaft und durch muslimische Gelehrte wurde die griechische Philosophie diskutiert, wissenschaftliche Forschung betrieben und die christliche Scholastik beeinflusst. Die Arabistin/Germanistin Silvia Horsch geht in einem Vortrag in Berlin 2008 in eine ähnliche Richtung:
Spanien war in unterschiedlicher Ausdehnung vom 8. bis ins 15. Jahrhundert unter muslimischer Herrschaft. Insgesamt lebten Muslime dort über 900 Jahre bis die spanische Inquisition, die nach dem erfolgreichen Ende der Reconquista einsetzte, sie zusammen mit den Juden vertrieben oder getötet hat. Muslime lebten also annähernd ein Jahrtausend in Westeuropa und das reicht nicht, um den Islam in die Reihe der europäischen Traditionen aufzunehmen?
…
Man kann sagen, dass die muslimische Präsenz in Andalusien zweimal endete, einmal mit Vertreibung und Inquisition und ein zweites Mal in den Geschichtsbüchern, in denen diese Epoche aus der europäischen Geschichte ausgetragen wurde, indem man eine Phase der Fremdherrschaft daraus machte. Die Verdrängung des Islams aus der europäischen Geschichte wird ihrerseits verdrängt, und so entsteht der Eindruck, Europa sei etwas, das sich ganz unabhängig vom Islam entwickelt habe. Europa konstruiert sich auf diese Weise selbst über einen „Mechanismus des Ausschlusses“ (Navid Kermani).
Sie verweist außerdem auf einen Vortrag von Frieder Otto Wolf (FU Berlin), von 1999: “Ohne die islamische Philosophie hätte es weder Scholastik noch Aufklärung geben können! Philosophiehistorische Anhaltspunkte für eine europäische Haltung zum Islam”.
Nun, es ist zwecklos, die Vergangenheit zu verklären und aktuelle Bedürfnisse hineinzulegen, darauf macht etwa der spanische Mittelalter-Forscher Francisco Garcia Fitz in diesem Beitrag in “die Welt” aufmerksam. Doch es scheint ausreichend belegt, dass es zu dieser Zeit einen regen Austausch gab zwischen islamischen und christlichen Praxen und Gedanken, und das obwohl Christen und Juden (dhimmis) nicht die gleichen Rechte wie Muslime hatten und teilweise spezielle Kleidervorschriften zur leichteren Identifikation zu befolgen hatten. Auch die Job-Aussichten waren für Nicht-Muslime stark begrenzt. Manchmal konnte man sich arrangieren und kam mit dem Zahlen von zusätzlichen Steuern davon. Als durchschnittlicher Mensch war man dem Regime und der Gängelung aus der Gruppe der Herrschenden jedoch eher ausgeliefert. Das konnte in manchen Fällen bedeuten, in einem Pogrom umzukommen (1011 in Cordoba, oder das Massaker von Granada 1066).
Vor diesem Hintergrund kann man die Überlegung, dass beide Seiten nicht unschuldig waren, erweitern und sagen, dass die Stilisierung zu zwei Seiten ebenfalls nicht unschuldig ist. Mit Hilfe der Unterteilung hat sich ein europäisches Selbstverständnis herausgebildet, das ein Bild vom Orient voraussetzt, das man nicht so einfach aufgeben kann, und zu dem man laufend Fakten finden kann.
Es wäre eine Illussion und ein Missverständnis, wahrgenommene Unterschiede zu nivellieren – oder daran zu appellieren, sich doch zu besinnen, weil wir früher alle gemeinsam waren, usw.
Was aber sonst tun?
2. Konkurrenz der Systeme
Aus meiner Berufserfahrung kenne ich eine weniger dramatische, überschaubarere Zwei-Seiten-Konstellation, die nicht das gesamte Weltverständnis betrifft, aber zunehmend Bereiche des Alltags: Smartphones und ihr Betriebssystem.
In “unserem Team” gibt es keinen Zweifel daran, dass Smartphones wichtig sind. Unser Arbeitsplatz hängt außerdem daran. Die Überzeugungen divergieren jedoch darüber, welches Betriebssystem für User und Programmiererinnen besser geeignet ist: Android oder iOS? Beide versprechen in der Produktpräsentation vieles, und können im Alltag nicht alles halten. Ebenfalls sind Programmiererinnen in der Lage, das Ausmaß der Mühe zu beurteilen, mit der die glänzenden Effekte hergestellt werden.
Apples iPhone hat die Mehrheit in jenem Schweizer Marktsegment, für die wir Apps anbieten. Entssprechend sind die iOS-Entwickler im Team vielzähliger und mit entsprechendem Selbstbewusstsein. Die Android-Sympathisanten dagegen sind in der Minderheit. Sie haben ein waches Auge auf alle Nachteile, die beim Entwicklen von iPhone Apps entstehen – und verpassen keine Gelegenheit, die Überlegenheit von Android herauszustellen. Da wird man oft von den Apple Fanboys belächelt. Sie verteidigen “ihr” Betriebssystem, und lächeln, wenn sie mal kein Argument haben. Hin und wieder gibt es Konvertiten, die von der Ex-Fraktion mit Kopfschütteln beurteilt werden. Oft kommt man darauf zu sprechen, und jedes gewonnene Argument ist Anlass, den Konvertiten aufzufordern, doch wieder zum “rechten Glauben” zurückzuwechseln. Mit einem Augenzwinkern.
Meine Erfahrung ist, dass man durch das konkurrierende System wachsam bleibt, weil seine Vorurteile einer Auseinandersetzung standhalten müssen. So lernt man die Schwächen seines Betriebssystems kennen. Die Erfahrung der Konkurrenz ist bereichernd wenn die Gemeinschaft, mit der man auf der Suche nach dem besten Betriebssystem für die jeweilige Anforderung ist, ausreichend Humor hat, um auch einmal eine Niederlage zu verkraften und ausreichend Nachsicht, um die Versuche, den eigenen Glauben schlechter dastehen zu lassen, gelassen zu nehmen. Die Erfahrung, dass man eine Niederlage einsteckt, aber keine fatalen Konsequenzen befürchten muss, hält die Gemeinschaft zusammen, obwohl – vielleicht sogar: weil – die Überzeugungen auseinandergehen.
Vielleicht schreibt deswegen der englische Poet und christliche Apologet Gilbert Chesterton, in Bezug auf die Faktoren der Stiftung von Einheit:
“It is not merely true that a creed unites men. Nay, a difference of creed unites men – so long as it is a clear difference. A boundary unites. Many a magnanimous Moslem and chivalrous Crusader must have been nearer to each other, because they were both dogmatists, than any two agnostics. “I say God is One,” and “I say God is One but also Three,” that is the beginning of a good quarrelsome, manly friendship.” – The New Hypocrite, What’s Wrong with the World
Was wäre, wenn man den Leuten ein iPhone mit einer neuen iOS-Version in die Hand gibt, das jedoch ein angepasstes Android-Betriebssystem installiert hat? Was, wenn man dies auf ähnliche Weise mit Koran und Bibel machen würde? Die Leute von “Dit is Normaal” zeigen das in zwei You-Tube-Videos:
Das Eigene im Fremden:
Das Fremde im Eigenen:
Ja, beide Seiten sind schuldig; und ja, die Polarisierung selbst ist nicht ohne Schuld. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass der Islam eine Bedeutung in und für Europa hatte. (Obwohl die Frage erlaubt sei, warum die Aufklärung sich nicht auf den Bereich des Islam erstreckt hat, wenn es sie doch ohne ihn nicht gäbe.)
Der Grund für den Beginn beim Antagonismus liegt in einem verteufelten double bind, wie er, trotz Chestertons schöner Bemerkung, ineinander verhedderte Positionen charakterisieren kann. Das Schimpfwort “Kreuzfahrer” war der Propaganda des IS entnommen und es weist auf ein vielschichtiges Resonanzphänomen. Die Eindringlinge in den Nahen Osten hießen local “die Franken”. Es scheint, dass deren Selbstbeschreibung als Kreuzfahrer nicht die historische Sicht ihrer Gegner war. Deren Schimpfwort funktioniert, weil es den westlichen Imperialismus mit Hilfe seiner eigenen Terminologie zu entlarven sucht. Und hinter ihm versteckt sich der östliche Beitrag zum Desaster.
Verglichen mit einem klaren Bekenntnis für Toleranz und symbiotisches Zusammenleben scheint das ums Eck gedacht. Aber was ist mit dem Krieg, den G.W. Bush und Francois Hollande erklärt haben? Er steht in der Tradition der Eroberungsgeschichte, auf die das Schimpfwort “Kreuzfahrer” repliziert. Die Staatsmänner nehmen den Köder an. Um dieser Misere Herr zu werden, muss man die unselige Polarisierung ausleuchten.
Kurz gesagt: Das historisch begründete tit-for-tat verhindert die Einsicht, dass es nicht um einen Kampf der Religionen, sondern um den Aufstand einer Provinz im globalisierten Hegemonialsystems geht.
“…warum die Aufklärung sich nicht auf den Bereich des Islam erstreckt hat…”
In dem Islam-Buch des Schweizer Theologen Hans Küng finden sich Überlegungen, warum islamisch geprägte Regionen in der kulturellen Entwicklung zurückgefallen sind, gegen Ende des Mittelalters. (vgl. ab Kapitel C/IV/The Paradigm of the Ulama and Sufis, speziell Abschnitt 8. “The crisis of medieval Islam” und folgende). Hier ein Extrakt:
1. Die Kreuzzüge (und die Mongolen) waren nicht ausschließlich für den Rückgang der geopolitischen Bedeutung der Araber verantwortlich, sondern die islamischen Dynastien verfielen auch aus dem Inneren heraus, durch Rivalitäten, die nicht nur von Macht generiert wurden (Kaliph in Bagdad, Kaliph in Cordoba), sondern auch durch konträre Vorstellungen über die Wahrheit der islamischen Lehre.
2. Die mittelalterliche christliche Philosophie übernahm das Erbe der arabisch-islamischen Philosophie: “Averroes may not have been influential in Islam, but he was in Christianity; if he represents an end-point for Arabic Islamic philosophy, for medieval Christian philosophy he represents a beginning.”
3. Anstelle der Renaissance, im 15. Jahrhundert, gab es in der islamischen Welt eine Kontinuität des Mittelalters und kein Interesse hatte an der Wende zu mehr Autonomie für die Menschen: “No one at that time could have guessed what historical consequences would follow from the fact that Islam, previously so progressive, missed out on the cultural link with European humanism in the late Middle Ages. […] the spiritual development of Islam remained largely tied to the traditional thought and way of life of its own Middle Ages and did not enable the individual to gain a new self-awareness and a new freedom”´
4. In den darauffolgenden Jahrhunderten wurde die islamische Welt von den Entwicklungen überrannt und kam in die Defensive. “The traditionalists fixated on the Qur’an and Sunnah dominated the field. And because under Muslim rulers, despite all the good beginnings, there could be no independent thinkers in philosophy, the understanding of the state and the natural sciences, there was no Renaissance, no Reformation, no Enlightenment.”
5. Die Erklärung, dass es deswegen keine Reformation im Islam gab, weil die Muslime in Al-Andalus vertrieben oder getötet wurden, ist für Küng nicht ausreichend. Denn tatsächlich gab es im Laufe der Jahrhunderte mehrere Reformbewegungen, die sich jedoch nicht durchsetzen konnten.
6. Durch die Entdeckung Amerikas und die Umschiffung Afrikas verschoben sich die Handelsrouten; der Atlantik war im Fokus der Aufmerksamkeit, und nicht mehr das Mittelmeer.
7. “we cannot overlook the fact that the decisive impulses for modernity came from the West”
8. Die Aufklärung kam nicht so richtig an im Osmanischen Reich, weil es wenig Übersetzungen ins Türkische gab. Und auf Arabisch, in der heiligen Sprache des Korans, durfte man keine nicht-religiösen Bücher drucken. Es gab keine nicht-Regierungs-Zeitungen und daher auch keine Journalisten.
9. Die Modernisierung hat viel Positives mit sich gebracht (Moderne Medizin, Naturwissenschaften,…), doch auch Kolonialismus/Imperialismus, die Atombombe, Massenvernichtung im Nazismus und Kommunismus, sowie die ökologischen Auswirkungen der Industrialisierung.
10. Im 19. Jahrhundert gab es Reformen und Anpassungen an westliche Strukturen, mit Unterstützung der islamischen Geistlichen, vor allem weil letztere stark mit dem osmanischen politischen System verbunden waren, die alles Nützliche, was zur Verteidigung gegen den Westen half, übernahmen. Doch die Bevölkerung wurde nicht mitgenommen – die islamischen Geistlichen, die Wächter der Sharia – hatten ihre Glaubwürdigkeit verloren: “[The Opposition of reforms] was kept alive by the class opposition between the higher and lower clergy: between the immensely rich aristocratic senior Ulama, exempt from taxes, who in their own interests also supported the reforms, and the lower Ulama in the city and country,who were closer to the often-fanatical masses of the Islamic people and had little time for the violations of the Shariah by the reformers. The allies of this reactionary Ulama were the merchants, craftsmen and lower classes of the people: they defended themselves against both Western influences and their own intelligentsia.”
11. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kamen die grundlegenden Reformversuche (Sayyid Ahmad Khan in Indien, al-Afghani)…
12. … doch die konnten den europäischen Imperialismus nicht stoppen. Zur Zeit des ersten Weltkriegs war nahezu das gesamte von Muslimen besiedelte Gebiet unter Herrschaft europäischer Mächte.
13. Dann kam eben die Allianz des osmanischen Reiches mit Deutschland und Österreich und der Aufruf zum Dschihad, um im ersten Weltkrieg zu bestehen. Die Türken waren unter den Verlierern. Istanbul besetzt. Ägypten war unter britischer Kontrolle, ebenso wie Iraq und Palestina. Libanon und Syrien waren unter französischer Kontrolle. Auf der arabischen Halbinsel hielt sich ein islamischer Staat Saudi Arabien, geprägt vom sunnitischen Wahhabismus.
Man müsste die Überlegung und Erzählung von Hans Küng prüfen und mit anderen Autoren, die über diese Jahrhunderte geforscht haben, vergleichen. Vielleicht in einem anderen Beitrag.
“You can’t say history teaches us this or that; it gives us more questions than answers, and many answers to every question.”
– Amin Maalouf