Der Tag begann mit einem Kapitel aus Sam Gillespies The Mathematics of Novelty: Badiou’s Minimalist Metaphysics[1. Eine kompromisslos kompakte Studie, die dem Autor, der sich 2003 umgebracht hat, 2005 ein Doktorat an der University of Warwick einbrachte.] Ärger machte sich breit, denn diese Darstellung folgt den bedenklichsten Impulsen der Philosophie. In hyperabstrakten Begriffen zelebriert sie ganz einfache Verhältnisse. Sie folgt darin Alain Badiou, der herkömmliche Umstände “Situationen” nennt, die durch “Ereignisse” erschüttert werden, und zur Analyse dieses Vorgangs “die Leere”. “das Sein” und “suture” heranzieht[2. “Events … signal breaks in situations as such: they bring the void, with which any situation is sutured to being, to the fore.” a.a.O. S. 11]. Dann aber funktionierte mein Open Access Archiv Sammelpunkt nicht mehr.
Eine typische Situation, irgendwelche Abläufe im Server waren durcheinandergeraten. Es stellte sich heraus, dass der für das Archiv zuständige Webserver nicht lief und auch nicht neu zu starten war. Die Fehlermeldung war kryptisch [3. “error: Can’t use an undefined value as a HASH reference at /opt/eprints3/perl_lib/EPrints/MetaField.pm line 252. Compilation failed in require at (eval 2) line 1.], jedenfalls ausserhalb meines Verständnishorizonts. Ich brauchte Hilfe und wandte mich an die Mailing List, die zur technischen Unterstützung für Betreiber der Software eingerichtet ist.[4. Die Abläufe sind im Listenarchiv unter dem Suchbegriff “apache fails to start eprints” dokumentiert.]
Eprints ist ein Open Source Projekt, das sich zum Ziel gesetzt hat, die freie Zugänglichkeit wissenschaftlicher Fachliteratur durch eine Webapplikation, welche die nötigen Arbeitsabläufe unterstützt, voranzubringen. Es handelt sich um ein Paket aus Perl-Scripts, das seit 2000 entwickelt wird und mittlerweile eine beträchtliche Komplexität erreicht hat. Man ist als Nicht-Programmierer auf fachkundige Hilfe angewiesen. Der Normalfall in solchen Situationen besteht darin, dass man für Unterstützung zahlt.
Stattdessen ereignete sich etwas, das mir den Atem verschlug. Das Hilfsansuchen war am 6.9. um 18:32 losgeschickt worden, am 7.9. um 08:52 erhielt ich die erste Antwort. Die Fehlermeldung stammt aus einem Kontext, der auf die Programmkonfiguration zugreift. Gibt es die dazu nötige Datei überhaupt?
Ja, die Datei existiert und sogar zweimal. Das deutet darauf hin, dass zwei verschiedene Archive abgeboten werden. Aber das ist ein Irrtum. Eine der Konfigurationsdateien stammt aus einer Probeinstallation, die sich überflüssiger Weise im selben Verzeichnis wie “Sammelpunkt” befindet. Auch nach ihrer Löschung bestand das Problem allerdings weiter. Die nächste Frage aus der Mailing List bezog sich auf ein Detail der Fehlermeldung[5. Use of uninitialized value in concatenation (.) or string at (eval 90) line 13. Can’t use an undefined value as a HASH reference at /opt/eprints3/bin/../perl_lib/EPrints/MetaField.pm line 252.] Was steht in Zeile 13 der betroffenen Konfigurationsdateien? Dort war nichts Auffälliges zu finden. Ein mulmiges Gefühl beschlich mich. Um 10:26 erreichte mich die Mail eines Kollegen an der Universität Wien, der persönliche Hilfe anbot. Am Nachmittag meldete sich ein italienischer Informatiker mit Ratschlägen, doch die empfohlenen Tests ergaben, dass die gesamte Installation korrekt konfiguriert war.
Dann, ziemlich genau einen Tag nach dem ersten Hilfeansuchen, kam die Intervention eines weiteren Listenmitglieds[6. “Do you have now a clean ‘~/archives/’, i.e. containing _only_useful/loadable archives?”] und brachte den Durchbruch. Ich hatte aus Platzgründen die im Archiv gespeicherten Dokumente auf eine eigene Festplattenpartition gelegt und den betreffenden Ordner von der Programminstallation aus verlinkt. Der Ordner heißt “archive” und in einem gedankenlosen Moment wurde er von mir noch für andere Ablagen verwendet. Der Webserver ist so jedoch so eingestellt, dass er die Inhalte dieses Ordners aufruft und sich zu starten weigert, wenn er dort etwas findet, das ihm nicht in den Kram passt.
Man kann (danke Thomas Laucke) sagen, dass ein “Geistesblitz” diese Situation bereinigt hat. Aber das ist nicht die philosophische Pointe dieser Geschichte. Das Engagement wildfremder Menschen zur Lösung eines diffusen Problems (durch die Achtlosigkeit eines Amateurs verursacht), unbezahlt, in kürzester Zeit, nur um der guten Sache willen, ist in emphatischem Sinn irregulär. Es gibt keine Normalität, auf die sich die Betroffenen berufen können und dennoch erzeugen sie in ihrer Kooperation – die weder vorweg geplant, noch eingefordert werden kann – einen Lichtblick.
Das war das Ende des Tages, der mit Alain Badiou begonnen hatte. Soviel zu Situation und Ereignis in der zeitgenössischen Philosophie.
Ohne Pathos…
Zwei ad hoc Kommentare, etwas daneben:
– Die Hilfe bei IT-Problemen im Netz durch Personen denen das gefällt, ist ein Zustand, in dem sich Programmiererinnen regelmäßig aufhalten (stackoverflow). Wenn man nicht so oft damit zu tun hat, wirkt das erstaunlich. Jedenfalls ist es erfreulich, in dem oben beschriebenen Fall.
– Ich war vor ein paar Monaten auf einem Code Poetry Event, wo ich einen Blog-Beitrag hier über “Typumwandlung für Heideggerianer” ausgegraben und etwas überarbeitet habe ( .http://phaidon.philo.at/qu/?p=1000 ) Man kann sich fragen, warum Source Code im “Jargon der Eigentlichkeit” formuliert werden soll, bzw. was dies bringt.
Es wurde bei Heidegger kritisiert, dass diese Sprechweise fake ist; dass sie ein Geheimnis induziert, das es nicht “gibt”, und eine Erhabenheit, die eine Elite erzeugt.
Programmierinnen bleiben lieber “am Boden der Tatsachen” und verwalten, verändern, verkomplizieren, usw. aufgrund ihres Insiderwissens den Code um Probleme zu lösen.
Das ist eine paternalistische Struktur versteckt durch eine Aura von Understatement und Kollaboration, die hilfreiche Effekte hat. Gerade Software-Ingeneure bilden eine Elite, die durch Softwareprodukte so ein ähnliches Kompetenzgefälle mit dem Benutzer aufbaut, wie das zwischen Leser und Autor mancher philosophischer Texte auftreten kann. Und erst in so einer Konstellation kann man sich als Helfender anbieten.
Und ist das schlecht? Wenn man die Hilfe von den wildfremden Informatikern erstaunlich und wünschenswer findet, warum der Ärger bei einem abstrakten aber vielleicht inspirierenden Werk der Metaphysik, wenn es vielleicht nicht beim Absturz einer Software helfen kann, sondern beim Erkennen von Zusammenhängen, die man nicht oft bedenkt? Dass man sich dabei verzetteln und verheddern kann trifft bei beiden Bereichen zu.
(Disclaimer: Ich habe das erwähnte Buch nicht gelesen.)
Dass die Eigenheiten und die Schönheit eines Code-snippets unausgesprochen bleiben, kann man schade finden und versuchen die Faszination zu wecken über ein Konzept wie die Typumwandlumg von untypisierten Zeigern. Das birgt die Gefahr, dass man kein Wissen vermittelt, sondern mit schönen Effekten zur Generierung von Aufmerksamkeit beiträgt. Und nicht jeder reagiert darauf mit der Tendenz, das Code-snippet verstehen zu wollen.
Das ist vielleicht eine Message aus dem obigen Beitrag. Philosophieren heisst nicht besser sein als die Fachleute, sondern in einem von Fachleuten dominierten Bereich den Fokus nur ein wenig verschieben; die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, dass und wie Expertise auf einen breiten Personenkreis einwirkt und ihr Leben verändert.