Der Elfenbeinturm und seine Türen

Wo kämen wir hin, wenn Schuster ihre Schuhe nicht für die Allgemeinheit, sondern nur für Schuster anfertigen würden?

Diese Frage stellt Roland Reichenbach am dies facultatis der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft, nach der Antrittsvorlesung von Frau Violetta Waibel, und vergleicht sie (die Schuster) mit den Philosophen, die ihre Arbeiten nur für Fachkolleginnen schreiben.

Einerseits ist die Frage berechtigt: Gerade Philosophie möchte etwas für alle relevante denken/schreiben/sprechen.

Andererseits (um die Metapher zu recyclen) ist die Tätigkeit, etwas vornehmlich für seine Fachkollegen zu schreiben, verständlich: Schuster tauschen unter sich neue Produktionstechniken oder praktische Tipps aus, die für die Benutzer von Schuhen nicht so interessant sind. Es macht keinen Sinn, jeden Benutzer vor dem Kauf oder vor dem Benutzen der Schuhe akribisch zu erklären, wieso sich dieses Fußbett exakt in die anatomische Fußform einpasst (vom Thema des geistigen Eigentums ganz zu schweigen).

Diese Metapher verwendet das Bild eines Produkts, das einmal produziert und danach direkt verwendet wird. Es ist fragwürdig, ob das Endprodukt des Philosophierens tatsächlich das ist, was verwendet werden kann. Tendenziell würde ich sagen, es ist mehr der Weg, der sich im Laufe einer Denkbewegung bahnt, als das “Endprodukt”. Von der Fragwürdigkeit und scheinbaren Widersprüchlichkeit unserer Erlebnisse geht es hinein in einen Möglichkeitsraum, in dem wir durch das Durchspielen von Szenarios unter verschiedenen Perspektiven zu einem anderen kognitiven Setting kommen. Diese andere Perspektive auf unsere Erlebnisse als eine Menge von Lehrsätzen vorzulegen ist gerade beim philosophieren unzureichend (auch wenn das manchmal genau so gehandhabt wird) und methodisch nicht zielführend. Perspektiven werden nicht durch das Nachbeten des Wortlauts, sondern durch eine Denkbewegung verständlich – erst dann beeinflussen sie unsere Handlungsmöglichkeiten und damit unseren Alltag.

Diese Vermittlung zwischen leichter Konsumierbarkeit und ‘technical terms’ ist nicht nur in der Philosophie, sondern in den Wissenschaften generell interessant. Es ist leicht festzustellen, dass unser Alltag von wissenschaftlichen/technischen Erkenntnisen umgeben und gestützt ist: Daten schwirren unsichtbar durch die Luft – WLAN/Mobilfunk; Wikipedia hilft uns bei einer Wissenslücke auf die Sprünge; Zuckerkranke werden automatisch bei lebensbedrohlichen Blutzuckerschwankungen alarmiert; neueste quantenmechanische Erkenntnisse werden bald neue kryptografische Verfahren ermöglichen; usw. Hierbei ist die Gefahr einer Wissenkluft recht groß: Die wenigen Fachleute (die auch nur auf einem ganz speziellen Gebiet kompetent sind und auf anderen Gebieten genauso unwissend) stehen den vielen Benutzern gegenüber, die aus vielfältigen Gründen die wissenschaftlichen Überlegungen hinter diesen Produkten nicht mehr nachvollziehen (wollen und/oder können).

Wir können uns nicht (immer) mit Details einzelner Fachrichtungen aufhalten. Gerade als Benutzerin kann es aber sinnvoll sein, aus dem jeweils eigenen Blickwinkel Gesamtperspektiven und Tendenzen von Fachrichtungen zu verstehen und mit ihnen zu experimentieren; die Produkte auseinandernehmen und etwas herumschrauben. Hierbei sind nicht nur “Benutzerinnen” in ihrer Verantwortung; die “Fachleute” sollen dafür Sorge tragen, ihre Erkenntnisse aus einer distanzierteren Perspektive allgemein verständlich zu erklären und an die Öffentlichkeit zu bringen. Das kostet Überwindung: von Feinheiten zu abstrahieren und zu einem Blickwinkel zu kommen, der einerseits wichtige Züge und Entscheidungen aus seiner Arbeit/dem Fachbereich darstellt, andererseits allgemein verständlich ist. Solche Darstellungen haben ein bisschen etwas von Rechtfertigung oder Bekenntnis, zumindest von Rückbindung.

So lassen sich “Endprodukte” leichter auflösen und an aktuelle Gegebenheiten anpassen. In der Informatik würden sofort die Stichworte Wartbarkeit / Modularisierung / Change-Requests / hohe Kopplung / geringe Kohäsion / Komplexitätsreduktion etc. fallen – man stellt sich schon bei der Entwicklung der Systeme darauf ein, dass an ihnen stark herumgebastelt wird ( daran können auch Closed Source Projekte wie Windows nicht vorbei). In der Informatik ist der Umgang mit Komplexität leichter als in der Philosophie, aber schwerer als in der Gebäudearchitektur, was tlw. am unterschiedlich stark vorhandenen Produktcharakter und dessen Sichtbarkeit liegt.

3 thoughts on “Der Elfenbeinturm und seine Türen

  1. Ich würde für die Philosophie gerne diese Regeln aufstellen:

    • jeder Schritt der philosophischen Arbeit muss allgemein nachvollziehbar sein
    • es gibt keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Fachphilosophinnen und Laien
    • es muss erklärbar sein, worin Fachphilosophinnen besser geübt sind

    Das klingt aber eigenartig. Das Argument ist, dass jede Person ein sinnvolles Leben zu verantworten hat und dass Philosophinnen dazu nicht wesentlich beitragen können. Sie berichten “auch nur” von ihren Versuchen.

    Aber andererseits: eine Psychotherapeutin kann ein psychisches Wrack sein und dennoch wertvolle Arbeit leisten. Es ist doch möglich, dass eine Ärztin raucht und vom Rauchen abrät. Wenn es am Prozess liegt: wieviel Geduld muss man verlangen, damit die Details einer Argumentation für die Öffentlichkeit nachvollziehbar werden? Und was antwortet man, wenn jamand sagt: “Ich kann/will Dir da nicht im Detail folgen – sag mir einfach, was ich tun soll!”

  2. Auch wenn es mir widerstrebt, manchmal kommt mir, wenn ich über etwas reden soll, womit ich mich längere Zeit beschäftigt habe, kurz der Gedanke “Das kann ich nicht erklären, das musst du erlebt haben.”. Ich reiß mich aber dann zusammen und rede darüber.

    Wenn ich in einer geselligen Runde von Freunden, die alle keine Studentinnen sind, davon anfangen müsste zu reden, was ich beim philosophieren so mache, und ich z.B. darüber reden will, wie Kurt Gödel den ontologischen Gottesbeweis in ein axiomatisches System fasst oder wie interaktive Textwelten als Platon-Einführung und Kommentar über Motive und Fallen bei seiner Staatskonzeption dienen können, dann habe ich vielleicht 1-10 Sätze zur Verfügung, dies zu erklären denn wenn es länger wird, dann ist es keine gesellige Runde mehr sondern ein Vortrag (wahrscheinlich werde ich nach einiger Zeit einfach durch die Gruppendynamik überrollt). Und was will ich in diesen Sätzen sagen, dass die Motivation klar wird?

    Mir schwebt vor, gar nicht DARÜBER zu reden, sondern performativ in das Thema reinzufinden (oder auch nicht, wenn es sich verläuft), als Diskussionsprozess sozusagen, bei dem ich mich aber zurücknehmen sollte, als Diskussionsziel genau das zu setzen, was ich von der intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema bereits im Hinterkopf habe. Ich nehme an der Diskussion Teil und ergänze durch mein Wissen da, wo es gerade nötig erscheint. Dadurch, dass es eben KEIN Vortrag ist, habe ich die Chance zu sehen, in welche Richtung die Sache driftet, sobald eine Problemstellung, eine bestimmte Situation und gewisse Informationen sich einschwingen.

    Das sind dann nicht Vorträge, die von Zeit Ort und teilnehmenden Personen relativ unabhängig sind, sondern einmalige Erlebnisse, die einem seine eigene Arbeit in einem anderen Licht sehen lassen. Und das muss nicht heißen, dass diese Arbeit keinen Sinn hätte – sie ist nur nicht in jeder Diskussion präsent… oder nicht auf dieselbe Weise.

  3. Gestern hatte ich eine Besprechung, in der es darum ging, wie der Prozess der Curricularentwicklung an der Uni Wien verbessert werden kann. Mein Vorschlag war, eine Gruppe einzuladen, die aus Vertreterinnen der diversen beteiligten Instanzen (Senat, Rektoat, Studienprogrammleitung, Studierende) besteht. Sofort kam die Frage auf: Und wer macht die Moderation?

    Meine erste Reaktion war: nur keine Moderatorin. Das sind die Personen, die neutral und gruppendynamisch korrekt, ohne Kenntnis der Sache, nach den Daumenregeln des allgemeinen guten Benehmens dafür sorgen, dass ein manierlicher Rahmen gewahrt bleibt.

    Die Frage lautet dann: Wie unterscheiden sich Philosophinnen von Moderatorinnen? Ich entdecke die Momente in der vorigen Bemerkung Andys. Es geht nicht nur darum, Übersicht zu gewinnen oder zu bewahren, sondern zuerst einmal um Überzeugungen und die Schwierigkeit, Engagement in der Sache (Zumutungen) mit Zuhören zu verbinden. Das ist kein Abgleich zwischen “Positionen”, sondern der Aufbau eines Kraftfelds zwischen Argumenten.

    Bei nochmaligem Nachdenken schien mir dann jemand zur Gesprächsführung doch wünschenswert. Ich nannte die Rolle “Zeremonienmeister”. Das schließt mit ein, dass es sich um ein gemeinsames Zeremoniell handelt – dessen Ablauf allerdings nur teilweise bekannt ist.

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