Der Mehrwert der Negation

In einer kurzen E-Mail-Korrespondenz hat mich der Hochschullehrer Ludwig Neidhart auf meine Bachelorarbeiten über Gödels ontologischen Beweis angesprochen und mir einen Ausschnitt seiner Dissertation (“Unendlichkeit im Schnittpunkt von Mathematik und Theologie” ) geschickt, in der er sich mit diesem Beweis auseinandersetzt. Dort wurde im Beweisgang auf den interessanten Fall der “vollständigen Negation” hingewiesen. Diese Negation führt nicht bloß von einer Seite eines Gegensatzes  zur anderen, sondern stellt zusätzlich die Grundlage des Gegensatzes auf der konzeptionellen Ebene in Frage.

Die vollständige Negation von E: “Das Zimmer ist klein” wäre G: “Das Zimmer ist groß oder der Kategorie der Größe enthoben”. Man könnte sich fragen, ob diese Art der Negation noch formal ist, wäre dann aber mit formalen Ontologien konfrontiert, die so etwas – eingeschränkt! – möglich machen, sobald man bewusst Hierarchien von Eigenschaften/Kategorien bildet.

Von mir kam eine andere Überlegung: Der Beweis fordert, dass die doppelte vollständige Negation – d.h. die Negation von G wieder zurück zu E führt. Wie kann man auf G eine vollständige Negation anwenden?

Klassisch:  Eine Formel “A v B” negiert ergibt:  NOT(A) ^ NOT(B). Im Beispiel wäre die (nun aber nicht vollständige?)Negation von G : “Das Zimmer ist klein UND der Kategorie der Größe nicht enthoben”. Für mich ist das ein von E verschiedener Satz, selbst wenn er immer denselben Wahrheitswert hat wie E.

OK, aber sind diese Sätze nicht äquivalent? Das kommt darauf an, was das bedeutet, von gleichem Wert zu sein. Vom Ergebnis her betrachtet, sind sie vermutlich äquivalent (und vermutlich zählt genau das bei einem logischen Beweis). Doch wenn mir jemand die Frage stellt: “Ist das Zimmer klein?” oder “Ist das Zimmer klein und hat es überhaupt eine Größe?” dann werde ich in der ersten Frage aufgefordert, anzugeben, ob das Zimmer wirklich klein ist im Gegensatz zu Groß.  Das ist alles. Im zweiten Fall werde ich jedoch explizit darauf angesprochen, ob die Zuschreibung einer Größe für dieses Zimmer überhaupt Sinn macht. Diese Frage würde andere Eigenschaften implizieren, etwa: Es ist (k)ein imaginäres Zimmer.

Diese Irritation wurde produziert durch die vollständige Negation von E, wo wir kurzzeitig vom Streitthema ausgestiegen sind, ob das Zimmer groß oder klein ist. Wir haben die mehr konzeptionelle Frage angehängt: Hat das Zimmer überhaupt eine Größe? Gehört es zur Klasse jener Zimmer, die eine Größe haben? Seit diesem Zeitpunkt führen wir im Satz die Reflektion des Gegensatzes mit uns, die ohne Kontext so klingt, als ob das Zimmer eine Einbildung wäre. Das kommt zustande, weil man mit dieser Frage eine Eigenschaft, die man gewöhnlicherweise mit einem Zimmer verbindet (das es eine Größe hat), in Zweifel zieht (denn wenn man dazusagen muss, dass es klein ist UND eine Größe hat, dann dürfte das vorher nicht klar gewesen sein).

Versuchen wir eine andere Eigenschaft. E sei: “Das Zimmer ist böse.” Dann ist G: “Das Zimmer ist gut oder gar nicht moralisch beurteilbar.” Die Negation von G ohne Anwendung der de Morgan-Regeln: “Es ist nicht der Fall, dass das Zimmer gut ist oder gar nicht moralisch beurteilbar.”  Schon bei G entsteht ein Mehrwert,  der nicht unmittelbar zurück zu E führt, und den wir bei der Negation von G mitschleppen. Zurück zu E zu kommen erfordert einen Reduktionsschritt, in der man sich explizit entscheidet, das konzeptionelle Thema nicht mehr anzusprechen. Die Formulierung wird also ärmer, selbst wenn man sagt, dass der zweite Term analytisch aus dem ersten folgt.

http://www.austrianrecipes.net/2009/06/liptauer-cheese-liptauer-kaese.html

5 thoughts on “Der Mehrwert der Negation

  1. Schon der Name “vollständige Negation” ist etwas verwunderlich. Er suggeriert, dass es eine Art von Negation gibt, die unvollständig oder vollständig sein kann. (Oder auf welche die Kategorie nicht zutrifft :-).)

    Die klassische Negation ist durch das tertium non datur definiert; die ist, so wie sie ist. Was anderes ist nicht vorgesehen. Ihr fehlt nichts. Wenn man ihr nun eine Unvollständigkeit zuschreibt – wo kommt sie her? Die Reichweite der Negation wird ausgedehnt. Sie bezieht sich nun auf ein duales Paar und auf die Möglichkeit der Zuschreibung der betreffenden Eigenschaften. Was ist daran vollständig?

    Es heisst bloß, dass es eine Operation gibt, die gleichzeitig zwischen den Polen eines Gegensatzes wechselt und die Erstellung dieses Gegensatzes aufhebt. Natürlich ist damit mehr gesagt, als mit der klassischen Negation. Aber was hat man davon, dass man diese beiden Betrachtungen in eine Hybridterminologie zusammenfasst?

  2. Wittgenstein im Manuskript 114, S. 31, weil ich gerade daran arbeite.

    “Daß zwei Verneinungen eine Bejahung ergeben, muß doch schon in der Verneinung, die ich jetzt gebrauche, liegen.” Hier bin ich im Begriffe eine Mythologie des Symbolismus zu erfinden.

    Es hat den Anschein, als könnte man aus der Bedeutung der Negation schließen, daß ”~~p” p bedeutet. Als würden aus der Natur der Negation die Regeln über das Negationszeichen folgen. Sodaß, in gewissem Sinne, die Negation zuerst vorhanden ist, und dann die Regeln der Grammatik.

    Es ist also, als hätte das Wesen der Negation einen zweifachen Ausdruck in der Sprache: denjenigen dessen Bedeutung ich erfasse, wenn ich den Ausdruck der Negation in einem Satz verstehe, und die Folgen dieser Bedeutung in der Grammatik.

    [Man ist versucht etwa folgenden Einwand zu machen: Man möchte etwa auch sagen:] Wenn jemand sagt ”sieh’ dort ist eine Kugel”, oder ”dort ist eine Halbkugel”, so kann die Ansicht die ich erhalte zu beidem passen; und wenn ich nun sage ”ja, ich sehe sie”, so unterscheide ich doch zwischen den beiden Hypothesen. — Wie ich in der Schachpartie zwischen einem Bauer und dem König unterscheide, auch wenn der gegenwärtige Zug einer ist, den beide machen könnten, und wenn selbst eine Königsfigur als Bauer fungierte.

    Das Wort ”Kugel” ist mir bekannt und steht in mir für etwas ; es bringt mich in eine gewisse Haltung zu sich (wie ein Magnet eine Nadel in seine Richtung bringt).

    Man ist in der Philosophie immer in Gefahr, eine Mythologie des Symbolismus zu geben, oder der Psychologie; statt einfach zu sagen, was man weiß.”

    Also: Es überblenden sich zwei Verständnisweisen der Negation.

  3. Zur “Vollständigen” Negation: Herr Neidhart hat auf meinen Blog-Eintrag per Mail geantwortet. Er meint die klassische Negation, weil sie nach Aristoteles zum “kontradiktorischen Gegenteil” umschlägt, ist selbst schon vollständig und von daher gar nichts Neues.

    Man muss dazusagen (und das war mir vorher nicht klar), dass wir uns so wie diese Negation beschrieben wurde, auf der Ebene der Prädikatenlogik bewegen.

    Vollständig würde sich auf den Objektbereich beziehen, über den man spricht. Was heißt dann “kontradiktorisch”? Angenommen wir sprechen über den Objekt-Bereich X = {a,b,c,d} und ein Satz P bezieht sich auf Objekt a. Dann muss der resultierende negierte Satz (der kontradiktorische Gegensatz) von P so beschaffen sein, dass er sich auf b, c und d bezieht.

    Neidhart kommt zur im Beitrag dargestellten Negation, indem er als Objektbereich den “allgemeinsten Objektbereich überhaupt” nimmt. Angenommen P spricht wieder über a. Und a ist Teil des Umfangs von z():={a,b,c}. Demgemäß muss der resultierende negierte Satz von P sich auf b,c und “alles andere” beziehen, wobei man “alles andere” durch die Negation von z() bekommt, d.h. “der Kategorie z enthoben”. Vollständig deshalb, weil dadurch potentiell “alles andere” bezeichnet ist.

    Vermutlich weniger problematisch ist, wenn man von der Negation eines Prädikats spricht anstatt von der “vollständigen Negation” zu reden. Vollständig bezieht sich nämlich auf die zugrunde liegende Ontologie, von der selbst nicht klar ist, ob sie vollständig ist, denn wie sollte man das herausfinden?

    Zum Zitat: Es gibt also Situationen, in der ich Halbkugel und Kugel nicht unterscheiden kann. Mit den Ansichten, die ich momentan zur Verfügung habe, sind beide Varianten möglich. Anstatt aber über den Begriff von Kugel nachzusinnen, kann ich sagen: “Von hier aus sieht man den Unterschied nicht” oder woanders hingehen.

    Was ich davon verstehe passt zu dem was oben passiert ist: Ich dachte zunächst, es handelt sich um ein neues Verständnis von Negation, d.h. als ich Negation hörte, dachte ich an das Umschlagen von Wahrheitswerten. Im Rahmen der Prädikatenlogik kann man sehr leicht die Negation eines reinen Prädikats dazudenken. Hier sind wir dann aber auf der ontologischen Ebene, auf der Ebene der Zuordnung von Prädikaten zu Objekten, nicht auf der Ebene von Sätzen.

  4. Es ist zwar nichts Neues, doch wenn ich schon beim Technischen gewesen bin und außerdem gerade für das Institut ein Programm zur Einführung in die prädikatenlogische Modallogik programmiere, kann ich an mein letztes Kommentar nochmal anschließen:

    In der Sprache der Prädikatenlogik kann man keine Prädikate negieren, nur Aussagen. Eine Aussage kann nur aus einem Prädikat bestehen, doch nicht jedes Prädikat ist schon eine Aussage.

    “Gut-Sein” behauptet nichts: G(x)
    “Jedes Individuum ist gut” dagegen schon: “∀x G(x).”
    Oder “es gibt mindestens ein Individuum das gut ist”: “∃x G(x).”
    “Arnold ist gut” ist auch eine Behauptung.: “G(a).”

    Es hängt also daran, ob dasjenige (es kann auch ein Bereich sein), über das man etwas aussagt, identifizierbar ist. Entsprechend der Auswertung kann die Behauptung dann wahr oder falsch sein. Und die Negation ist dann genau der andere Wahrheitswert. Mit der Objektsprache der üblichen Prädikatenlogik kommt man also nicht zum mengentheoretischen Komplement. Denn die Prädikatenlogik bespricht zwar Individuen, kann sie aber nicht negieren. Diese Negation geht auf Sätze, nicht auf Individuen oder Kategorien.

    1. Das Problem entsteht dadurch, dass man eine formale Funktion (die Negation) mittels einer intendierten Interpretation ihrer Anwendung charakterisiert. “Negieren” als Wechsel des Wahrheitswertes ist agnostisch hinsichtlich der Verwüstungen, die es in bestimmten Sachgebieten anrichtet 🙂

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