Sommer-Special: Liturgien und Volkslieder 2.0

Vielleicht erinnert sich noch jemand, oder hat es von den Großeltern mitbekommen. In Zeiten wo Großfamilien noch häufiger vorkamen, sang man nach erledigter Arbeit gemeinsam und passend zur Stimmung bekannte Volkslieder. Von meiner Großmutter ist mir “Kein schöner Land in dieser Zeit” bekannt. Das diente dem Zusammenhalt und der Kurzweil. Heute geht man auf Youtube und lädt seine Performance eines Internet-Ereignisses hoch – oder schaut sich jene von anderen an. Im Folgenden zwei von unzähligen Beispielen:

  • Das Internetmem “Nyan Cat”: im Original, mit dem Piano nachgespielt, in der Metal-Version, als Jazz-Cover, mit russischen/chinesischen/polnischen Eigenheiten, in der 24-Stunden-Schleife und der Slow-Motion-Variante, und vieles mehr. Das Original funktioniert in seiner Einfachheit so, als ob es ein Icon im Medium Video imitieren würde. Die Iteration eines und desselben Bildes verknüpft mit der Wiederholung eines nicht völlig zugänglichen Lautes (Nya ist japanisch für ‘miau’) wirkt irritierend, und etwas nervig. Aber es kommt auch etwas zum Stillstand, zum Schweigen. Wir erwarten, in einem Video eine Bewegung zu sehen. Gut, die sehen wir. Nun fragt jedoch ein Kind in Reaktion auf das Video verständlicherweise: ‘What’s the point of this?’ Gibt es da eine Botschaft? Die Darstellung eines Inhalts wird gewissermaßen verweigert, oder stark minimalisiert. Es gibt den Refrain, den Kern. Wir können nur nichts damit anfangen. Aber anscheinend doch. Die Tatsache, dass es so viele Nachahmungen gibt, weist vielleicht darauf hin, dass es Fälle gibt, wo genau das, was sich einem Sinn entzieht, uns leichter dazu bringt, einen Sinn zu gewinnen. Es werden Versuche unternommen, die fehlende Botschaft irgendwie auszugleichen oder eine vermeintliche Botschaft anzueignen, in die eigene Sprache zu übersetzen (Enkulturation). Man baut rund um den irritierenden Charakter und schreibt ihn dadurch weiter ein.
  • Auf den ersten Blick etwas weniger irritierend: Das im Original mit einer synthethischen Stimme erstellte “Still alive” vom Computerspiel Portal. Es handelt sich um einen Credits-Song, d.h. er wird bei der Namensnennung der beteiligten Produzentinnen am Ende eines gewonnenen Spiels eingeblendet. Im Spiel fungiert die weibliche Computerstimme GLaDOS als Beraterin, die durch die Missionen führt. Die Ratschläge erweisen sich jedoch allmählich als ambivalent, GLaDOS scheint Stimmungsschwankungen zu unterliegen, die immer feindlicher werden. Am Ende des Spiels vernichtet man den Systemkern von GLaDOS und der Song wird eingespielt (Lebt GLaDOS noch oder ist sie wiederauferstanden? Sie hat auch einen Kuchen gebacken.) Unlängst erhielt “Still alive” einen erweiterten Kontext, als das Kollektiv Anonymous den Song auf der Website der Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte (GEMA) verlinkte, nachdem die Seite ein zweites Mal gehackt wurde. “This was a triumph”, so beginnt das Stück. Man findet diverse Covers. Zum Beispiel setzen sich Personen mit einem Instrument vor die Webcam und imitieren die künstliche weibliche Stimme. Und man entschuldigt sich: Es klingt leider nicht so, wie es tatsächlich klingt, weil man ja kein Roboter ist. Die Wertschätzung und der Versuch der Annäherung an die rätselhafte Stimme vereint uns. Volkslieder… still alive.
Weiterführendes:

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