israeliticam dignitatem

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Lessings Ringparabel hat Saison. Sie passt gut in das Profil der Veranstaltungen zur 650-Jahr-Feier der Universität Wien[1.Lessings Ringparabel und die Verständigung zwischen den Religionen]. Sie markiert den Kontrast zum mörderischen Religionskrieg im mittleren Osten und gibt Gelegenheit, die eigene Toleranz zu feiern. Man sollte sich dabei vor Augen halten, dass der Effekt des Lehrgedichts auf Voraussetzungen beruht, die selbst nicht fraglos gelten[2.Annäherungen an Toleranz]. Lessing lässt jedoch keinen Zweifel darüber aufkommen, worin die Pointe besteht.

Alle positiven und geoffenbarten Religionen sind folglich gleich wahr und gleich falsch.[3.Lessing über geofffenbarte Religion]

Der Intellektuelle verbirgt sich hinter einem sphinxischen Lächeln. Das ist mir zu einfach. Noch einfacher wäre akzeptabel, wenn er die die ganze Frage für unsinnig erklären würde. Aber das ambivalente Spiel mit Wahrheit und Falschheit ist eine Rafinesse für Connaisseurs. Unter Umständen muss Wahrheit auch Anstoß erregen. Ein Anschauungsbeispiel folgt.

Die katholische Osternachtsliturgie erinnert in einer Lesung aus dem Buch Exodus[4.Ex 14, 15ff] an den Auszug des jüdischen Volkes aus Ägypten, durch das wunderbar geöffnete Rote Meer. Ein Zwischengebet schließt daran an[5.Die exemplarisch wortgetreue Übersetzung stammt von A. Zerfaß]:

Gott, dessen uralte Wundertaten wir auch in unserer Zeit aufblitzen sehen,

da du das, was du einem Volk durch die Macht deiner Rechten zuteilwerden ließest,
um es von der Verfolgung durch den Pharao zu befreien, zum Heil der Völker durch
das Wasser der Wiedergeburt wirkst,
gib,

dass die Fülle der ganzen Welt zu Söhnen Abrahams und zur Würde Israels übergehe.

Eine erstaunliche Bitte. Das “Wasser der Wiedergeburt” (die Taufe) kennzeichnet Christinnen und diese mögen, zusammen mit aller Welt, die Bedeutung Israels erlangen. Eine ziemliche Zumutung:

ut in Abrahae filios et in Israeliticam dignitatem totius mundi transeat plenitudo

Provokant ist die Textstelle in beide Richtungen. Einerseits verbitten sich Juden[6. Menahem Macina: L’attribution de l’«israelitica dignitas» aux chrétiens est-elle un concept substitutionniste?]
angesichts des endemischen christlichen Antisemitismus die Kooptierung ihres Glaubensinhaltes. Andererseits klingt der Satz auch für durchschnittliche Katholiken skandalös. Greifbare Belege für den Widerstand gegen diese mindestens seit dem 7.Jahrhundert in der Liturgie gebräuchliche Formel finden sich in den lokalen Übersetzungen des lateinischen Missales, die sich um den Anstoß (heute kann man sagen) herumschwindeln. Eine ältere deutsche Version ersetzt die lateinische Vorgabe durch eine abmildernde Exegese:

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Eine italienische Fassung spricht von der Rolle, welche die Söhne Abrahams zu spielen hatten, schließlich findet sich aber auch eine französische Version, welche die dignitas Israelitica sogar zu “de la grandeur et des avantages du peuple d’Israel” verstärkt.

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Die Fürbitte im globalisierenden Lateinisch skizziert eine gewagte Querverbindung zwischen einer Stammesreligion, einer Gegenströmung, die sich von ihr lossagt und Aussichten für alle. Wie schon gesagt, man kann sich derartige Recherchen sparen, wenn man das Thema der Erlösung der Menschheit durch göttlichen Einfluss fallen lässt. Das führt zur Frage, warum sich jemand ernsthaft, auch ohne Glaubensüberzeugung, damit befassen sollte.

Eine unverfängliche Antwort kann auf die Faszination der Arbeit mit Texten hinweisen. Wenn es, wie Andreas Kirchner hier vor Kurzem demonstriert hat, der Informatik gestattet ist, in ihren Quelltexten Strategien zum Umgang mit dem Unendlichen zu verfolgen, und wenn die in schriftlicher Tradition überlieferten Bestände nicht weniger interessant sind, als die unergründlichen big data Depots, kann man es sich herausnehmen, auch atheistisch im Fundus der westlichen Tradition nach Überraschungen zu suchen. Aber ist das nicht doch eine apologetische Ablenkung angesichts der Übel, welche die Religionen auf die Welt gebracht haben?

Von Lessing ist die Distanz zur Glaubensverkündigung der verschiedenen Kirchen zu übernehmen. Im ersten Durchgang geht für einen säkularen Betrachter gar nichts. An dieser Stelle kann man sagen: “Dann eben nicht. Ende der Durchsage.” Oder die Sache wird mehrdimensional. Jahrhunderte barbarischer Kreuzzüge und Hoffnungsträgerinnen hoher Integrität kommen ins Spiel. Lessing bietet, welcher Intellektuellen wäre das nicht vertraut, einen Schleiertanz. Eine Alternative für Geisteswissenschaftlerinnen besteht darin, nicht den Glaubensgegenstand, aber immerhin im Glauben festgehaltene Zusammenhänge in historisch-systematischer Verantwortung festzuhalten.

Darin liegt Hochmut und Bescheidenheit. Im Licht der soeben angeführten Faktoide bietet die aktuelle Gebetsversion der “Oratio” aus der Karwochenliturgie[7.Schott: Wortgottesdienst zum Karsamstag, Lesejahr 2] weichgespültes Wohlsein. Angesichts der 1500 Jahre, in denen die Formel weitergereicht wurde, empfiehlt sich Zurückhaltung, auch seitens der Parteigänger Lessings.

schott


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