Heimat: Hafen und Hölle

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Andreas Kirchner schreibt im vorigen Blogeintrag:

Daraus kann ich mein Verständnis von Heimat gewinnen: Das, was einem ermöglicht, etwas Neues auszuprobieren. Ein Ort, von dem aus man aufbrechen und aus dem man immer weitere Möglichkeiten erhalten kann. Genauso wie meine Identität ist dieser Ort nicht eindeutig, er ist entzogen, zeigt sich fragmentarisch.

Ich möchte das an einer kurzen Episode testen, die sich unlängst in einer Tabaktrafik zugetragen hat. Es geht dabei nicht direkt um Heimat, wohl aber um die Herstellung von Identität und Fragmentierung an einem Ort der Möglichkeit und Flucht.

 

 
Das Geschäft betrete ich nur im Notfall, denn seinen Besitzer verdächtige ich der Sympathie mit der FPÖ. Ein aggressiv-ressentimentaler Wiener. Nur wenn mein bevorzugter ägyptischer Laden sonntags die “Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung” (die beste Wochenzeitung, die ich kenne) nicht mehr hat, versuche ich es am Montag in diesem Laden. Diesmal bedient mich, zu meiner Überraschung, eine Frau, freundlich und etwas unbeholfen. Ich überlege, wie sie wohl zum Prolo steht und denke, dass sie zu jenen Partnerinnen gehört, die in einer giftigen Atmosphäre einen Teil ihrer Unbescholtenheit bewahren.

Sie hantiert an der Kassa und sagt “Geht das so? Du sagst ja immer …” und er murmelt “Ja, geht eh so.” Sie steht mir frontal gegenüber, er sieht sie von der Seite an. Während er spricht “wirft mir die Frau einen Blick zu”. Das ist die zugehörige Redewendung, aber sie passt nicht recht. Es ist ein instinktiver visueller Seufzer, der ungefiltert auf mich trifft. Er sagt: “Es ist ein Jammer, aber Du verstehst es ja”. Wirklich in einem Sekundenbruchteil. Als fremde Person in diesem Dreieck werde ich zum Mitwisser und Zeugen einer Unpässlichkeit. Sie ist sofort vorbei und diskursiv nicht einlösbar, doch die Interaktion liegt vor jedem Zweifel.

Das hat etwas von Heimat. Vor der Kassa der Trafik bin ich Teil einer Verständigung von Personen, die mich so nehmen, wie ich bin und die ich nicht in Frage stelle. Für einen Moment teilen wir die Urszene der Familie, die Mutter ist auf den Kind/Kunden ausgerichtet, während der Vater Autorität sehen lässt. Der Blick erzeugt ein irrevozibles Einverständnis unter Bedingungen des Patriarchats. Er ist ein Geschenk — eines das man fliehen muss.

Die Frage lautet: (Wie) Kann man aus diesem Blick, einem unhinterfragbarem Vertrauensbeweis, “immer weitere Möglichkeiten erhalten”?

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