Herbert Hrachovec war als Kunde Teil einer paradigmatischen Szene in einer Trafik. Darin wirft die Verkäuferin ihm, unter den Augen des strengen Inhabers, einen Blick zu, der den Kunden auf seine Seite ziehen will. Der Blick wird zum Symbol für einen Aspekt von Heimat. Eine Frage wird aufgeworfen:
(Wie) Kann man aus diesem Blick, einem unhinterfragbarem Vertrauensbeweis, “immer weitere Möglichkeiten erhalten”?
Die Frage macht einen Aspekt sichtbar, der in meinem letzten Blog-Beitrag über Heimat und Fremdheit ausgeblendet wurde. Heimat ermöglicht nicht nur die Erkundung von Neuem durch die Tatsache, dass man irgendwo angefangen hat. Konstellationen in der Heimat stellen einen vor die Wahl, eine begrenzende Wahl: Weggehen oder bleiben. Doch diese Wahl ist eine scheinbare, weil man die Heimat weder loswerden noch in ein ursprüngliches Verhältnis zu ihr kommen kann. Das macht Heimat und Vergangenheit verwandt. Im Folgenden ein paar Überlegungen dazu. Darin fließen eigene Erfahrungen sowie die Lektüre von Texten von Michel de Certeau und Paul Ricœur (via Hans-Dieter Gondek) ein. Sie kommen schließlich auf die Schuldenkrise Griechenlands zu sprechen.
- Die “Ur”-szene ist nicht (ausreichend) durch den Effekt des Blicks verständlich, der in dem Betroffenen Abstoßungs- oder Anziehungsbewegungen auslöst. Ihr gehen Entwicklungen und die Einbettung in eine Umgebung voraus. So auch bei der Heimat: Die abstrakte Erkenntnis, dass ich angezogen und abgestossen bin lässt sich nicht dadurch konkretisieren und erweitern, dass ich mich auf den Moment beziehe, der Aufbruch bzw. Sesshaftigkeit erzeugt hat. Die Möglichkeiten, die ein solcher pointierter Rückbezug eröffnet, sind beschränkt und erfordern eine Erweiterung des Horizonts, zeitlich und räumlich.
- “Woher kommst du?”, fragt mich jemand. Heimat ist zunächst ein Wort, mit dem wir auf einen Ort Bezug nehmen, den wir als Anfang und wichtig festsetzen bzw. den jemand für uns festgesetzt hat. Das Wort wird oft gebraucht, wenn man gerade nicht an diesem Ort ist, z.B. auf Reisen. Die ersten Sätze, wenn man eine Fremdsprache lernt, handeln vom Namen und von der Heimat: “I am Andy. I am from Austria.”. Man identifiziert sich mit dem Namen und der Herkunft. Ein anderer Gebrauch ist die Abgrenzung von einem gegenwärtigen Zustand und einem Bekenntnis zu dem, was früher einmal war. Das Paradebeispiel in Österreich für populäres Heimatgefühl liefert das Lied von Reinhard Fendrich, “I am from Austria”, das beginnt mit dem Beklagen des Umstands, dass die Höhepunkte vorbei sind: “Deine hohe Zeit ist lange vorüber” und dann im Refrain wird die Zughörigkeit beschworen, die man nicht rückgängig machen kann: “Auch wenn wir es schon vergessen haben: Ich bin dein Apfel, du mein Stamm”.
- Heimat hat mit Vergangenheit gemeinsam, dass man der Heimat seltsamerweise dadurch gegenüber steht, dass man mit ihr (fort)gegangen ist. Wenn man hier steht (und ein Verhältnis zu ihr einnimmt) heißt das, dass etwas von ihr fortbesteht, das mitgekommen ist. Je nachdem ein Ballast oder ein Talent. Was sieht man, wenn man – mit dem, was mitgekommen ist – auf sie zurückschaut? Es ist ja kein neutraler Blick, sondern ein unvermeidlich vorbelasteter. Auch die Erinnerungen sind verschwommen und Ergebnis von verschiedensten Überlagerungen. Man korrigiert sie durch Zeugnisse, Artefakte, Dokumente und versucht eine Rekonstruktion dessen, wie es so weit kommen konnte, dass man jetzt hier steht. Kleine Puzzleteile finden sich, verweisen auf Weiteres. Können sich die Details zu einem Gesamtbild und zu einer Geschichte fügen?
- Ein schönes Zeugnis für das Arbeiten mit den Vorbelastungen, die wir haben wenn wir (in diesem Fall die spirituelle) Heimat darstellen, gibt Michel de Certeau in einem Aufsatz von 1966: “Der Mythos von den Ursprüngen” untersucht die Situation der Jesuiten. Der Autor, selbt ein Jesuit, begibt sich auf die Spuren seiner Gründungsväter. Welchen Aussicht auf Erfolg hat diese Spurensuche? Die Analyse ist eine Reorganisation der Vergangenheit, weil wir von der Gegenwart aus unsere eigenen Schwerpunkte setzen. Doch kann man dadurch überhaupt zu einem fairen Verständnis der Vergangenheit kommen? Oder tut man der Vergangenheit immer Gewalt an, weil man sie – so genau auch immer man vorgeht – implizit lobt oder tadelt, also beurteilt, aufgrund einer Position, von der man nicht Abstand nehmen kann oder will und die selbst geprägt ist von der Vergangenheit. Es gibt verschiedene Zugänge zur Vergangenheit, hier zwei zur Kontrastierung. Historiker widmen sich der Beschreibung der Geschichte aus Interesse und/oder wegen beruflicher Verpflichtungen. Sie verbinden wenig Persönliches mit dem Urteil dieser Vergangenheit. Dann gibt es Leute, die in der Tradition stehen, dessen Geschichte sie analysieren. Jemand, der sich auf eine Gemeinschaft beruft, hat die Intention, etwas von den zentralen Gedanken dieser Gemeinschaft am Leben zu erhalten bzw. hat zumindest etwas zu verlieren, wenn er beschließt, dies nicht zu tun. Deswegen die Beschäftigung mit der Vergangenheit der eigenen Tradition. Es könnte ja sein, dass die Vor-Generation etwas übersehen hat. So wie man heute etwas übersehen kann, wenn man über die Heimat spricht, weil man bestimmte Bedürfnisse hat. Certeau steht in einer Tradition, die er untersucht und muss unterscheiden zwischen Haltungen, die er übernehmen kann, und anderen, die er hinter sich lässt, was leicht gesagt ist:
“Was unser Vorhaben angeht, die Gesellschaft Jesu in ihrer Entstehung zu fassen, erscheint die Vergangenheit zugleich als das Land unserer Geburt und als das Land, das wir verlassen haben. […] Wir hoffen dort den noch transparenten ursprünglichen Geist zu finden, den eine Weiterentwicklung nur verfälscht hätte, aber wir lehnen seine Sprache ab, die heute nicht mehr gesprochen wird und in der wir uns nicht mehr zuhause fühlen können. Einserseits gibt es eine Anfangswahrheit, auf die wir zurückkommen müssten, um in ihr das Kriterium für die heutigen Entscheidungen zu erblicken; andererseits walten da hinsichtlich der Welt, des Heils und der letzten Ziele, der Heiden und der menschlichen Beziehungen, der Vaterrolle, der Führung oder der Religionspsychologie, kurz hinsichtlich aller Dimensionen der Existenz, eine Mentalität und Vorstellungen, zu denen wir nur auf Abstand gehen können. […] Der Anfang würde zugleich den Ort des Essentiellen und den Ort des Überholten darstellen, den Ort dessen, was für die Gegenwart am notwendigsten und am femdartigsten ist.” (Michel de Certeau: GlaubensSchwachheit. Hrsg. von Luce Giard. 2009. S64)
- Man sucht also in der Vergangenheit, um das Essentielle vom Überholten zu trennen. Was hat sich zugetragen? Wie war das wirklich? Was heisst es, ein Jesuit zu sein? Oder aus dem niederösterreichischem Weinviertel zu kommen? Oder sein Kind weggenommen zu bekommen? Die Taschenlampe des Historikers oder des Psychoanalytikers leuchtet. Mit ihnen am Weg: Menschen die etwas verloren haben: Melancholiker. Und Leute, die sich die Frage “Woher komme ich?” stellen. Die Erwartung ist: Ein Ereignis, etwas Verdrängtes, einen Skandal, oder einen Schatz zu finden. Etwas versteckt sich und lockt uns, ihm auf die Spur zu kommen. Kleine Puzzleteile finden sich, verweisen auf Weiteres. Können sich die Details zu einem Gesamtbild fügen? Hier muss man entschieden sagen: Die Reise, d.h. die Suche nach dem, was sich versteckt, hat kein Ende, wenn man das ultimative Panorama-Bild sucht und das Ende der Geschichte. Es braucht eine Entscheidung, die der Bringschuld ein Ende bereitet und ein Verhältnis zum Geschehenen einnimmt, basierend auf dem, was man weiß und dem, was man will. Das Risiko ist, dass man sich täuscht.
- Paul Ricoeur (ich folge hier der Rezeption von Hans-Dieter Gondek und Laszlo Tengelyi: Neue Phänomenologie in Frankreich, 2011) sieht in der Vergangenheit weniger etwas, zu dem man gern Verbindung aufnehmen möchte, sondern das sowieso an einem klebt und von dem man zuerst einmal Abstand gewinnen soll, um das Vergangene als vergangen anzuerkennen – und dadurch für sich etwas gewinnen kann. Ricoeur hat sich dem Thema der Vergangenheitsbewältigung gewidmet in: Das Rätsel der Vergangenheit. Erinnern – Vergessen – Verzeihen. 1998. Es geht um die Aufgabe der Geschichtsforschung, die darin besteht, darzustellen, dass das Vergangene vergangen ist. Das heißt, dass es eine Distanz gibt zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart und dass die Vergangenheit nicht aktualisierbar ist. Es ist eine Gefahr, der die Geschichtsforschung begegnen muss, dass man, von der Gegenwart kommend, etwas in die Vergangenheit legt, das nicht von ihr kommt. Man muss die Vergangenheit ruhen lassen. Wie aber lässt man sie ruhen? Nicht dadurch, dass man sie ignoriert, dann kommt sie nämlich unbemerkt mit. Man muss sie – hier erkennt Gondek Begriffe von Michel de Certeau (acte de sépulture – mise au tombeau) – zu Grabe legen (Gondek S.474). Das heißt aber, ein Verhältnis einzunehmen zu dem was (leider oder zum Glück) aufhört. Bei Ricoeur ist der Fokus auf die Schuldfrage zentral bei der Vergangenheitsbewältigung. Sie geht von der Erfahrung aus, dass man etwas ändern bzw. wieder gut machen möchte, das sich nicht mehr ändern lässt. Die Unwiderruflichkeit kann dazu führen, dass man immer wieder darauf zurückkommt. Man wird nicht mehr losgelassen von der Vergangenheit. Außer es gibt eine Aussicht auf Vergebung, die den Sinn der Begebenheiten verändern kann:
“[…D]er Sinn dessen, was sich zutrug, [steht] nicht ein für alle Mal fest. […D]ie moralische Last, die mit dem Verhältnis der Schuld zur Vergangenheit zusammenhängt, [kann] schwerer oder leichter werden – je nachdem, ob der Vorwurf den Schuldigen in das schmerzliche Gefühl des Unwiderruflichen bannt oder ob das Verzeihen die Aussicht auf eine Erlösung von der Schuld eröffnet, was einer Verwandlung des Sinns des Ereignisses gleichkommt.” (Ricoeur S.125f)
- Ricoeurs Motto am Ende des Buches: La dette sans faute – Schuld(en) ohne Schuld: “Eine subtile Arbeit des Bindens und Entbindens ist im Herzen der Schuld (dette) selbst zu verrichten: einerseits die Entbindung von der Verfehlung (faute), andererseits die nie auflösbare Bindung eines Schuldners.” Sagt er damit, dass es gar keine Verfehlung gab oder gibt? Nein. Ich verstehe das so: Um ein distanziertes und damit freies Verhältnis zur Vergangenheit zu bekommen, muss man die Schuldfrage entschärfen. Dafür braucht es die Vergebung der Schuld, also darüber, dass man etwas falsch gemacht hat. Dafür muss man um Verzeihung bitten. Und dann – das kann man nicht fordern – bekommt man darauf vielleicht eine Antwort.
- Haben diese Überlegungen Auswirkungen auf die Sicht, wie wir heute handeln und denken? Ein Versuch: Zur Zeit gibt es in der europäsichen Politik eine große Frage nach den Schulden und nach der Schuld. Griechenland hat viele Schulden, steht in der Schuld der Gläubiger. Die Hilfspakete werden an Bedingungen geknüpft. “Geben zwingt dazu, zurückzugeben”, schreibt Ricoeur. “Geben schafft unter der Hand Ungleichheit, indem die Gebenden eine Position herablassender Überlegenheit einnehmen; Geben bindet den Begünstigten, verwandelt ihn in einen Schuldner der zu Dankbarkeit verpflichet ist; Geben erdrückt den Begünstigten unter der Last einer untilgbaren Schuld.” (S.738) Was im aktuellen Schuldenstreit nicht passiert ist eine Vergebung der Verfehlung, sondern ein Handel mit der Menge der Schulden. Was bedeutet es aber in dieser Situation, die Verfehlung zu vergeben? Der französische Ökonom Thomas Piketty schlägt in einem Interview in “Die Zeit” vor, dem Land die Schulden nachzulassen, weil man vom Blick auf die Vergangenheit wegkommen und in Richtung Zukunft gehen muss. Dies hat Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg wirtschaftlich schnell auf die Beine geholfen und soll nun auch wieder helfen:
“Nach großen Krisen, die eine hohe Schuldenlast zur Folge haben, kommt irgendwann der Zeitpunkt, an dem man sich der Zukunft zuwenden muss. Man kann von neuen Generationen nicht verlangen, über Jahrzehnte für die Fehler ihrer Eltern zu bezahlen. Nun haben die Griechen zweifellos große Fehler gemacht. Bis 2009 haben die Regierungen in Athen ihre Haushalte gefälscht. Deshalb aber trägt die junge Generation der Griechen heute nicht mehr Verantwortung für die Fehler ihrer Eltern als die junge Generation von Deutschen in den 1950er und 1960er Jahren. Wir müssen jetzt nach vorne schauen. Europa wurde auf dem Vergessen der Schulden und dem Investieren in die Zukunft gegründet. Und eben nicht auf der Idee der ewigen Buße. Daran müssen wir uns erinnern.”
Sich erinnern, dass die Gründung mit dem Vergessen der Schulden beginnt? Vergleiche mit Ricoeur’s Vorschlag: Schulden ohne Schuld: Es gibt es den Schuldner weiterhin, aber die Verfehlung wird vergeben und das erlaubt, sich der Zukunft zuzuwenden. Hier geht es nicht nur um die moralische Last, sondern um die Frage, wie sich der Staatshaushalt aufrechterhalten kann. Die Schulden verweisen nämlich auf den Gläubiger und seine bedrohliche Präsenz; wenn die Vergebung nicht nur eine leere Geste ist, wird sie handfeste Konsequenzen haben.
- Hier verbindet sich die Frage nach Heimat und Schuld dramatisch und aktuell. Sollen und müssen die jungen Griechinnen und Griechen die Verantwortung dafür übernehmen, was in ihrer Heimat vor ihrer Zeit passiert ist? Sollen sie – repräsentiert durch die gewählte griechische Regierung – um Verzeihung bitten? Die Geste des Bittens setzt voraus, dass man die Verfehlung eingesehen hat, das heißt, dass man die Geschichte durchgearbeitet hat und sich schuldig bekennt.
- Ricoeur setzt bei der Vergebung auf die Analyse der Gabe. Es handelt sich um ein Tauschverhältnis: Der Bitte um Verzeihung wird entsprochen. Doch unter welchen Bedingungen? Es gibt einen Unterschied zwischen der berechneten Gabe und der großzügigen Gabe. Erstere verpflichtet auf eine Gegengabe und letzere begnügt sich damit, den Empfänger zu ehren, ohne ihn zu Weiterem zu zwingen (ihn aber anzuspornen). Die Großzügigkeit (in der Art: wir tun das, weil wir dich lieben), muss man sich erst einmal leisten können. Sie setzt voraus, dass man nicht selbst in Verhältnissen von Zwang und Schuld festgefahren ist.
Griechenland. Es ist ein Trümmerhaufen und die Schuld kann man verschieden verteilen. Jedenfalls hat die politische Konstruktion des Euroraumes und die Hegemonialpolitik seiner dominierenden Wirtschaftskräfte daran maßgeblichen Anteil, während es Griechenland mit voller Härte trifft.
Realpolitik kann in dieser Situation nur darin bestehen, diese wirtschaftliche Katastrophe zu bewältigen. Doch sie braucht eine “Moralpolitik”, d.h. eine diskursive Einbettung in einen Motivationszusammenhang, aus dem die Beteiligten Antriebe zur Problemlösung gewinnen. Leider stehen sich diesbezüglich zwei “Erzählungen” gegenüber, die beide beängstigen: “reisst Euch doch zusammen” versus “wir sind die Opfer”; Austerität gegen Ressentiment.
Die Frage, ob die Schuldnerin “um Verzeihung bitten soll” passt nicht so recht. Dass der “Schulderlass” in Deutschland gut gegangen ist, liegt ja nicht daran, dass die Deutschen richtig zerknirscht waren, sondern dass sie ihre Vergangenheit analysiert und Konsequenzen gezogen haben. Davon höre ich aus Griechenland im Moment kaum etwas.
Das ist die Stelle, an der mir das Verständnis für Tsipras fehlt. Speziell dafür, dass er eine Koalition mit Rechtspopulisten eingegangen ist, statt mit To Potami. Die Unterstützung durch den Front National ist vor diesem Hintergrund kein Zufall. Die Rede von verletzter Ehre dient der Vorbereitung zum Duell.
“Dass der “Schulderlass” in Deutschland gut gegangen ist, liegt ja nicht daran, dass die Deutschen richtig zerknirscht waren, sondern dass sie ihre Vergangenheit analysiert und Konsequenzen gezogen haben.”
Deutschland hat sich nicht selbst aus dem Sumpf gezogen. Dass in Deutschland überhaupt Konsequenzen gezogen werden konnten, lag am unterstützenden Umfeld. Die Deutschen bekamen von den “Siegermächten” eine neue Chance und damit Aussicht auf (wirtschaftliche und moralische) Bewältigung der Misere:
– Ein zerstörtes Deutschland konnte – mit Hilfe der Alliierten in den Besatzungszonen – aufgebaut werden. (Rekonstruktions-Effekt und Aufhol-Effekt)
– Der Marshallplan war ein positives Signal von den USA in Richtung Europa “Wir unterstützen euch”. Das war allerdings nicht so sehr eine Geste der Vergebung sondern eine wirtschaftliche Überlegung für die US-Volkswirtschaft (“Absatzmärkte”) und eine Strategie im Zusammenhang mit dem zu dieser Zeit jungen Kalten Krieg.
Nun zu Griechenland: In einem der zwei Dokumente, die heute zur Abstimmung kommen, wird erwähnt dass es im Jahr 2012 bereits eine Umstrukturierung von 200 Milliarden Schulden gab, die mit heutigem Stand nicht mehr ausreicht. Sie führte zu einer Schuldenerleichterung von 100 Milliarden EUR (ca. 50% vom griechischen Bruttoinlandsprodukt). (Vgl. http://scholarship.law.duke.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=5343&context=faculty_scholarship)
Um dieses Ereignis einzuordnen bedienten sich im Jahr 2012 unterschiedliche Positionen der europäischen Vergangenheit:
(1) Im Juni 2012 schreibt Hans-Werner Sinn vom Münchener Institut für Wirtschaftsforschung in der New York Times über den Marschallplan und die 2012-Griechenlandhilfen: “Greece has received a staggering 115 Marshall plans, 29 from Germany alone, and yet the situation has not improved.” ( http://www.nytimes.com/2012/06/13/opinion/germany-cant-fix-the-euro-crisis.html?hp&_r=0 )
(2) Darauf meldet sich Albert Ritschl von der London School of Economics im Economist, dass der Marschallplan nicht nur die einstelligen Prozentwerte an Hilfen für Deutschland geleistet hat. Man muss auch die Vereinbarungen berücksichtigen die im Rahmen des Marschallplans beschlossen wurden, dass nämlich keine Forderungen von anderen Ländern an Deutschland gestellt werden dürfen, solange die Hilfen vom Marschallplan nicht zurückbezahlt sind. Es handelte sich um ca. 90% des Bruttoinlandsprodukts an Schulden, die eingefroren wurden.
1953 gab es dann das Londoner Schuldenabkommen zu den deutschen Schulden. Dort erreichte der Banker Hermann Josef Abs, der während der Nazi-Zeit in der Deutschen Bank mit dem Zwangsverkauf von jüdischen Unternehmen und Banken betraut war, dass die Schulden vor 1933 mit reduzierten Zinsen zurückzuzahlen sind. Die Schulden hingegen, die nach 1933 gemacht wurden, wurden bis auf Weiteres eingefroren und sollten bei einer Folgekonferenz diskutiert werden – nach einer Wiedervereinigung Deutschlands. Zu der Folgekonferenz kam es nach der Wiedervereinigung nicht. Der Zwei-Plus-Vier-Vertrag von 1990 sieht vor, dass diese Frage der restlichen Schulden nicht mehr geregelt werden muss.
Resüme von Albert Ritschl:
“While Western Europe in the 1950s struggled with debt/GDP ratios close to 200%, the new West German state enjoyed debt/ GDP ratios of less than 20%. This and its forced re-entry into Europe’s markets was Germany’s true benefit from the Marshall Plan, not just the 2-4% pump priming effect of Marshall Aid. As a long term effect, Germany effortlessly embarked on a policy of macroeconomic orthodoxy that it has seen no reason to deviate from ever since.”
( http://www.economist.com/blogs/freeexchange/2012/06/economic-history )
Andreas K.: “Man sucht also in der Vergangenheit, um das Essentielle vom Überholten zu trennen. Was hat sich zugetragen? Wie war das wirklich?” … Es braucht eine Entscheidung, die der Bringschuld ein Ende bereitet und ein Verhältnis zum Geschehenen einnimmt, basierend auf dem, was man weiß und dem, was man will.”
Der Hinweis auf den Marschallplan und die Suggestion, das sollte man Griechenland auch zugestehen, überzeugt mich nicht. Die “zu vergebende” Ausgangslage ist schlicht unvergleichbar, zu Lasten Deutschlands. Die Vorgänge 1953 lassen sich nur in einem anderen Zusammenhang diskutieren, nämlich in der Alternative zwischen Morgenthau- und Marschallplan. Die positive Entscheidung zugunsten Deutschland war eine Strategie im Kalten Krieg. Die Situation in Griechenland entstand dadurch, dass die Westmächte der deutschen Wiedervereinigung zugestimmt haben, was die Einhegung der deutschen Wirtschaftsmacht (D-Mark) in den Euro implizierte.
Dabei wurde übersehen, dass im Euroraum, einer Agglomeration von 19 Demokratien, die eine gemeinsame Währung, aber weder eine gemeinsame ökonomische Infrastruktur, noch ein verlässliches gemeinsames Rechnungswesen besitzen, schwerwiegende Ungleichheiten entstehen. Der ökonomisch starke Norden expandiert und der Süden hat ein Jahrzehnt davon profitiert. Der Fehler geht auf das Konto aller Beteiligten, im Unterschied zur Kriegsschuld Deutschlands. Nicht die Folgen einer weltgeschichtlichen Katastrophe sind zugunsten einer Containment-Politik herunterzuspielen. Das Thema ist, dass sich die Vertreter von 19 Staaten gründlich verrechnet haben und dass sie einen Weg aus diesem Schlamassel finden müssen. Mir fehlt die Sympathie dafür, in diesem Zusammenhang von Erpressung und Terrorismus zu sprechen und auch dafür, die genannten Unterschiede zu vernachlässigen.
Griechenland ist einem Verein beigetreten, der Vorteile und Gefahren bringt. Alle Vereinsmitglieder haben sich in wichtigen Punkten verschätzt und Griechenland hat es dabei besonders stark getroffen. Sie verdienen Unterstützung, aber der Rest der Vereinsmitglieder kann erwarten, dass sie die Regeln nicht ablehnen, an denen Solidarität (im Unterschied zur Krisenhilfe) hängt.
Terrorismus ist eine Übertreibung (es geht eher um – sicher gut gemeinten – Einfluss in die Politik Griechenlands nicht nur mit diplomatischen Mitteln, sondern auch mit finanztechnischen und juristischen Apparaten) und diese Art der Rhetorik sicher ein Fehler. Solche Aktionen wird die künftige Zusammenarbeit mit den anderen Europäischen Ländern stark erschweren oder längerfristig schädigen.
Ich muss zugeben, dass ich nicht in der Lage wäre, die Verantwortung für den Abbruch der Gespräche mit den anderen EU-Ländern, sowie die möglichen Konsequenzen des Referendums auf die griechische Bevölkerung, zu tragen, wenn ich in Varoufakis oder Tsipras Haut wäre. Auch wenn ich einen Neustart versprochen hätte.
Unbestritten. Was man beobachten kann ist gegenseitige Beschuldigung, wo man eigentlich etwas leiser treten müsste angesichts der eigenen Fehler. Man erwartet von erfahrenen Politikern etwas reifere Aussagen. Die trotzige Haltung: “Ein Nein in der Abstimmung bedeutet: Austritt aus dem Euro.” ist wenig zielführend. Merkel war zurückhaltender und ist nach dem Referendum, unabhängig vom Ergebnis, für weitere Verhandlungen zugänglich – jedoch muss für ein neues Hilfsprogramm der Bundesrat abstimmen, was Zeit braucht.
Eine allgemeine Bemerkung zur Gruppendynamik: In den Fällen, wo einer ohne viel Aussicht auf nachhaltigen Erfolg (und ziemlich unbedarft) ausschert aus dem üblichen Diskurs und der (impliziten) Regeln, schweißt das die anderen automatisch zusammen und man verliert die Geduld mit dem, der offenbar keine Ahnung hat, wie es in er Europäischen Union läuft und woran man sich halten muss. Oder besser, das richtige Wort hier ist Hybris. “Verträge der Vorregierung? Das müssen wir neu verhandeln.”
Wer hätte gedacht, dass die Südstaaten so auf einer Linie mit Deutschland sein werden, was die Austeritätsfrage betrifft?
Die Stärkung Merkels ist momentan der Nebeneffekt der griechischen Hybris-Politik. So kann sie sagen: “Ein guter Europäer ist nicht der, der eine Einigung um jeden Preis eingeht. Ein guter Europäer ist der, der die jeweiligen Verträge und das nationale Recht achtet und auf diese Weise hilft, dass die Stabilität der Euro-Zone keinen Schaden nimmt.”
Die Ordnung aktualisiert sich auf Basis ihrer Störer.