unbedingt Asyl

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Ein Symposium zu “FLUCHT UND ASYL. Sozialphilosopische Perspektiven” im Rahmen des FWF Projektes Sprache und Gewalt am Institut für Philosophie der Universität Wien befasste sich ausführlich mit dem Thema Asyl. Eine exponierte Position hat Jacques Derrida in Von der Gastfreundschaft vertreten. Er spricht von “absoluter und bedingungsloser Gastfreundschaft”[1. Wie bei Derrida üblich ist diese Redeweise in ein komplexes Argumentationsverfahren eingebettet. H.W. Sneller hat es in einem Beitrag Ethische Aporien: die Paradoxe der Gastfreundschaft detailliert erörtert. Die vorliegende Notiz folgt Derridas Manövern nicht und setzt sich dem Vorwurf der unzulässigen Vereinfachung aus.]. Einige Teilnehmerinnen (m/w) machten sich diesen Gedanken zu eigen. Es folgt ein Versuch, diese Formulierung als sprachliche Wendung mit praktischen Auswirkungen zu analysieren.

Unbedingtheit und Absolutheit sind steile Vorgaben. Sie fallen aus dem gewöhnlichen Lebensverlauf. Auch Derrida stellt sie den “gemäßigten”, im pragmatischen Umgang gebräuchlichen, Regelungen gegenüber. Es ist daher hilfreich, sich an Praktiken zu erinnern, in denen diese hochgesteckten Ansprüche auf weitgehenden Konsens treffen und regelmäßig umgesetzt werden. Spitäler im Kriegsgebiet, betrieben vom “Roten Kreuz” oder von den “Medizinern ohne Grenzen”, nehmen Verletzte abgesehen von allen Restriktionen auf. Und auch das Kirchenasyl steht unabhängig von Herkunft und Schuld offen.

Für beide Beispiele gilt ein Prinzip, das Peter Zeilinger auf der Wiener Tagung als die Forderung vertreten hat, Asyl vor der Asylprüfung zu gewähren. Das Schutzgebot hat Vorrang vor der bürokratischen Überprüfung der Rechtmässigkeit des Verlangens. Die Aufnahmebereitschaft kennt, wie Derrida ausführt, einen Modus der Bedingungslosigkeit. Zeilinger verallgemeinert das für jede Asylpraxis.

Darin steckt eine mächtige Voraussetzung. Spitäler und Kirchen sind räumlich und institutionell eng umrissene Orte. Sie können Aufnahmekapazitäten ohne Bedingungen nur sehr begrenzt zur Verfügung stellen. Zum Asylverständnis, das sich mit ihnen verbindet, gehört, dass diese Orte nicht universalisierbar sind. Spitäler inmitten von Kampfhandlungen müssen triagieren. In diesem Fall werden die beiden von Derrida diskutierten “Gastfreundschaften” (bedingt und unbedingt) nebeneinander praktiziert: im Prinzip alle, de facto aber nur beschränkt viele Hilfesuchende können behandelt werden.

Gastfreundschaft, und Aufnahmebereitschaft generell, sind begrifflich so verfasst, dass sie nicht verabsolutiert werden können. Eine schwache Lesart dieser Behauptung besagt, es wäre zwar wünschenswert, sie uneingeschränkt gelten zu lassen, nur könnten wir das leider nicht in vollem Umfang verwirklichen. Ich vertrete eine stärkere Lesart: die Worte verlieren ihren Sinn, wenn das bezeichnete Verhalten keine Individualisierung (mehr) zulässt. Eine beliebige Person, die Unterkunft verlangt, ist kein Gast. Sie kann zum Gast werden, wenn jemand sie aufnehmen kann. Diesem Können sind Grenzen gesetzt, die sich nicht beliebig ausdehnen lassen.

Dagegen spricht der alte sozialistische Gruß “Freundschaft” und die Tradition des idealistischen Humanismus, die sich in Schillers Ode an die Freude[2. Geschrieben für eine Dresdener Freimaurerloge 1785] zu den höchsten Tönen aufschwingt.

Rettung von Tirannenketten,

Großmut auch dem Bösewicht,

Hoffnung auf den Sterbebetten,
Gnade auf dem Hochgericht!
Auch die Toden sollen leben!

Brüder trinkt und stimmet ein,

Allen Sündern soll vergeben,

und die Hölle nicht mehr seyn.



Das ist eine himmlische Willkommenskultur. Man muss es genauer sagen: der Himmel ist eine solche Willkommenskultur. Wenn man davon absieht, dass er nach der Abschaffung der Hölle diesen Namen nicht mehr verdient[3. Hakan Gürses hat Migranten zitiert, welche die aktuelle Situation in der Türkei als “die Hölle” bezeichnen.]. Es erstaunt, dass Dekonstruktivistinnen, die ausführlich mit der Durchleuchtung etablierter Selbstverständlichkeiten beschäftigt sind, sich nicht an folgender Textstrophe der Europahymne versuchen:

Seid umschlungen Millionen!
Diesen Kuß der ganzen Welt!
Brüder – überm Sternenzelt

muß ein lieber Vater wohnen.

5 thoughts on “unbedingt Asyl

  1. Der Gedanke, dass universell Gültiges sich auch im Einzelfall bewähren muss, leuchtet mir ein. Daraus abzuleiten, dass ein Begriff sich _dauernd_ im Einzelfall bewähren muss, erscheint mir weniger einleuchtend. Im Fall des Asyls liegt es in der Hand der GastgeberInnen, ob die (immer nur als potentielle vorauszusetzende) universelle Gültigkeit im Einzelfall bestätigt wird oder nicht.

    Wenn GastgeberInnen sich um eine Ausweitung des im Konkreten jeweils begrenzten Bereichs ihrer Gastfreundschaft bemühen – und als eine solche Bemühung lässt sich die Willkommenskultur lesen – so hat das nicht nur wünschenswerte Folgen für die empfangenen Gäste, sondern auch für die GastgeberInnen selbst: In einem Haus, in dem Gäste ein und aus gehen können, lebt es sich auch für die GastgeberInnen angenehmer. Am Asyl auch in einer unbedingten Form festzuhalten, ist vor allem eine Frage, wie und als was wir uns selbst verstehen wollen. Visionen vom Himmel auf Erden sind dabei nicht in jedem Fall Ausdruck einer manischen Abwehr von Realität, sondern mobilisieren kreative Kräfte, um Realität mit zu gestalten.

  2. Sagen wir zur Probe 2 + 2=4 sei allgemeingültig. Was heißt es dann, dass es sich in jedem Einzelfall bewähren muss? Ich kann mir drei Varianten vorstellen.

    (1) Allgemeingültigkeit heißt, dass sich der Satz nicht bewähren muss. Oder anders gesagt: er kann sich gar nicht bewähren, weil er diesem Verfahren entzogen ist. So ist Allgemeingültigkeit zu verstehen.

    (2) Allgemeingültigkeit gibt es nicht ohne Bewährung im Einzelfall. Auch das ist eine Begriffsvorgabe. Ohne Besonderes kein Allgemeines. In diesem Zusammenhang bedeutet “bewähren”, dass einem eingespielten Paradigma eine regulative Funktion zukommt und dass es sich bewährt, wenn der beabsichtigte Ablauf stimmt.

    (3) Es ist schließlich auch darauf hinzuweisen, dass sich “Allgemeingültiges” auch in der genannten Funktion bewähren muss. Im mathematischen Beispiel springt es nicht ins Auge, aber in einem nicht-standard Modell der Peano-Arithmetic trifft 2 + 2=4 nicht zu. Dort herrschen andere Allgemeingültigkeiten.

    Ich habe versucht, eine Skizze des Asyl-Paradigmas zu geben. Es enthält Spielräume und Grenzen. Im Einzelfall kann nach (2) das Paradigma funktionieren oder nicht. Eine andere Frage ist, ob nach (3) meine Auffassung des Paradigmas verändert werden oder überhaupt ersetzt werden sollte. Niemand zwingt uns, die Schulmathematik im Hinterkopf zu haben, wenn wir “2 + 2=4” behaupten. Aber zwei Punkte sind zu beachten:

    (a) Wenn das im Rahmen von (2) geschieht, handelt es sich um einen Fehler. Paradigmengeleitete Praktiken sind dazu da, eine solche Weichenstellung zu bewirken.

    (b) Im Rahmen von (3) handelt sich um einen Paradigmenstreit, nicht um eine Bewährung im Einzelfall.

    Eine knappe Nutzanwendung auf das Thema Asyl: Das Wort “Asyl” in den Mund zu nehmen heißt noch gar nichts. Man muss versuchen, es in Argumentationen und Praktiken einzubauen. Dabei ergibt sich ein beschränkt flexibles Muster für den gewöhnlichen Gebrauch. Er kann sich nicht bewähren, dann muss man fragen, wo die Schwierigkeit liegt.

    Es fällt auf, dass die Seite der Gastfreundlichen keinen anderen Asylbegriff befürworten. Das hieße Verzicht auf Grenzziehung und damit würde auch das vorhandene Verständnis von “Asyl” aufgehoben.

  3. Der französische Begriff “hôte” ist interessant, weil er “Gast” ebenso wie “Gastgeber” bezeichnen kann. Der Gast und der Gastgeber können ausgetauscht werden. Ich spreche leider nur sehr schlecht Französisch und kann deswegen nicht sagen, wie man innerhalb dieser Sprache mit der Begriffsambivalenz umgeht, aber sie regt eine Überlegung an:

    Stellen wir uns einen Regentag vor, einen Autostopper und einen Vielfahrer. Der Autofahrer bleibt stehen und lässt den Tramper einsteigen. Was beide verbindet ist, dass nun beide unter einer schützenden Konstruktion sitzen, auf die der Regen einprasselt. D. h. sobald ein Gast/Gastgeber-Verhältnis etabliert ist, sind die Rollen in einer bestimmten Hinsicht austauschbar: Der Fahrer ist Gastgeber, weil er den Fahrgast mitnimmt. Der Tramper ist Gastgeber, weil er den Fahrer in eine Geschichte mitnimmt, die er ihm erzählt.

    Sollte ich nun entscheiden, ob ich eine Asylsuchende aufnehmen will, dann hätte ich zweierlei zu bedenken: Wie verhalte ich mich als Gastgeber und wie verhalte ich mich als Gast der “Geschichtenerzählerin”, die mich einlädt, in ihrer Geschichte auf ein havarierendes Boot zu kommen? Ich möchte vorschlagen, dass man die oben angesprochene “Unbedingtheit” dort ansetzen könnte, wo der Gastgeber zum Gast des Gastes wird. Unbedingt muss die Geschichte angehört werden, das kann zu einem universellen Imperativ gemacht werden. Das wäre dann so etwas wie eine unbedingte “Gasthöflichkeit”, die für alle Beteiligten gilt: auf der Seite des Ziellandes die Bereitschaft, Konsequenzen (und Kapazitäten) zu vernachlässigen, solange man Gast in der Geschichte der Asylsuchenden ist. Damit ist aber nicht gesagt, dass man unbedingt Gastfreundschaft zu leisten hat. Auf der Seite der Asylsuchenden die Bereitschaft, Gewohnheiten und Überzeugungen hintan zu stellen, um ein guter Gast zu sein. Damit ist aber nicht gesagt, dass Asylsuchende als Gastgeber für Zuhörer dazu gezwungen werden sollten, zu erzählen was der Gast hören will und wie er es hören will; ein höflicher Gast hört trotzdem zu.

    Sollte ich diese Überlegung illustrieren, dann würde ich zwei Scharniere zeichnen, die jeweils einen fixierten und einen losen Flügel haben und sich umeinander drehend eine Prozessbewegung darstellen. Ein solcher Prozess würde es vielleicht ermöglichen, die, meiner Meinung nach, zu unbewegliche Haltung der “unbeingten Gastfreundschaft” mit der zu kontingenten Haltung der “Verantwortungsübernahme für Konsequenzen” (Kapazitäten, usw.) in Verhältnis zu setzen. Die eine Seite ist zu unbeweglich, weil Konsequenzen vernachlässigt werden, die andere Seite ist zu kontingent, weil die unterstellte Gesinnung unscharf und dunkel bleibt.

    Wie weiter oben bereits etwas salopp mit dem Autostopperbeispiel gesagt: Der eine nimmt den anderen mit/auf, während umgekehrt der Auf/Mitgenommene auch den anderen mit/aufnimmt. Und beide hören den Regen aufs Autodach prasseln. – Die Höflichkeit des Gastes ist auf beiden Seiten notwendig, damit es überhaupt zu dem Gast/Gastgeber-Verhältnis kommen kann, das die Doppeldeutigkeit von “hôte” im Französischen so wunderbar veranschaulicht. Wie man sich jedoch als Gastgeber verhält ist in beiden Fällen nicht unbedingt aufzwingbar.

    Meiner Meinung nach müsste ein Paradigmenwechsel in der Asylfrage darin bestehen, die Spannung im Gast/Gastgeber-Verhältnis nicht auf eine Seite hin aufzulösen, sondern sie aufrecht zu erhalten und damit einen Prozess in die Wege zu leiten. Führt der Prozess irgendwohin? Man weiß es nicht. Darf er deswegen unterbrochen werden? Nein.

    1. Das Verhältnis zwischen Vielfahrer und Autostopper eignet sich dazu, einige Züge der Gastlichkeit zu beleuchten, die über konventionelle Bekanntschaften hinausgehen. Es ist dezidiert unpersönlich, entsteht zufällig und endet kontingent, je nach Fahrtroute. Es bietet auf den ersten Blick eine deutliche Schlagseite zugunsten des PKW-Besitzers und eine Klientenrolle für den Fahrgast. Umso effektiver ist Bernd Gutmannsbauers Wendung. Unbeschadet dieser Asymmetrie lassen sich nämlich beide Seiten auf einen freien Austausch ein. Die Pointe sitzt. Jeder Beteiligte “hat etwas davon”, die gebotene Mitfahrgelegenheit und die erzählte Geschichte können einander wiegen aufwiegen. Dass das mitunter nicht klappt, ist kein Grund, diese produktive Möglichkeit auszulassen.

      Das Beispiel hilft dazu, die Problemlage rund um Migration und Asyl zu bearbeiten. Allerdings würde ich dabei eine passende und eine unpassende Analogie unterscheiden.

      Die fremdenfreundliche Partei argumentiert oft damit, dass “wir” durch die Bereitschaft, Fremdes aufzunehmen, bereichert werden. Das ist im Beispiel wunderschön abgebildet. Es lässt sich machen, auch und gerade wenn die Autobesitzerin über die dickere Geldtasche verfügt. Auf das Prinzip der konstruktiven Neugierde, inklusive Risiko, sollte man nicht verzichten.

      Aber die Parallelisierung enthält auch eine falsche Suggestion. Der Platzregen in Bernds Episode bedroht nur eine der beiden Personen und macht sie zum Bittsteller. Diese Ungleichheit verschwindet nicht, wenn beide im trockenen Auto sitzen. Der PKW-Besitz schützt anders, als der gewährte Unterschlupf. Man kann die Geschichte so weitererzählen, dass sich daraus eine dauerhafte Bekanntschaft, auch Freundschaft, ergibt, aber das ist nicht Standard. Insofern passt sie nicht auf die verbreitete Situation von Asylsuchenden.

      Gastfreundschaft. Es lohnt sich, über diesen Ausdruck nachzudenken. Der zweite Wortteil spielt ein Doppelspiel. Er weist in Richtung eines ungezwungenen, wechselseitig belebenden, emotional aufgehellten Umgangs miteinander. Dieses Verständnis färbt auch das Kompositum und die Geschichte vom Autostoppen erfasst diese Nuance. Aber die betreffende Haltung ist individuell und nicht einklagbar. Wenn sie zu einer sozialen Tugend proklamiert wird, sieht die Sache anders aus.

      1. Vielen Dank für die Antwort! Das Beispiel des Autostoppers und des Vielfahrers ist, meiner Ansicht nach, als solches als Arguemnt für z. B. eine politische Diskussion nicht zu gebrauchen, denn dafür ist es zu angreifbar: 1. richtet es das Schlaglicht auf das “Gute”, das uns durch aufnahmebereites Verhalten zukommt. Es braucht nur eine kleine Dosis “Realitätsbewusstsein”, oder auch Zynismus, um hier eine naive Vorstellung zu sehen, bei der etwaige Gefahren ausgeklammert werden. 2. etabliert es die Rollenverteilung von Gönnerin und Bittsteller, was schnell zu Begriffen wie “Schmarotzer” führen kann. 3. ist Autostoppen – das kann ich aus eigener Erfahrung sagen – heute längst nicht mehr so verbreitet wie noch vor zwanzig Jahren, weil mittlerweile viel mehr Angst herrscht als früher; der common sense steht ihm intuitiv eher ablehnend gegenüber.

        Das Beispiel trifft also nicht nur nicht die Intuition, sondern es bietet den Gegnerinnen der “fremdenfreundlichen” Perspetkive im Endeffekt noch Heizmaterial für ihren brodelnden Groll, weil, sobald die Aussage des Beispiels als naiv diagnostiziert wurde, sich quasi automatisch Assoziationen mit Überfällen, faulen Schamrotzern, dem Nonkonformen, dem Eindringen, Verschmutzen, Entweihen, usw. ergeben. In meinem Freundes- und Bekanntenkreis befinden sich Personen mit verschiedensten politischen Anschauungen und im Gespräch mit manchen würde mir mit wackerem Blick zugestimmt werden, wenn ich vom Autostopper rede, im Gespräch mit anderen würde mir das Beispiel schnell um die Ohren fliegen.

        Das zweite Bild, das ich angeboten habe war das der beiden Scharniere. Ein Tischler würde verschmitzt lachen, zeigte ich ihm die Konstruktion, denn sie ist technisch nicht umsetzbar. Es liegt eine Unmöglichkeit darin, die nämlich, dass sich das Fixierte auch bewegen müsste, ohne dass irgend ein Teil nicht fixiert wäre – manchmal macht man im Gehen eine ruckartige Bewegung um neunzig Grad und hat das Gefühl, dass nicht man selbst sich gedreht hat, sondern dass die Erde sich plötzlich in eine andere Richtung dreht. Mit dem Beispiel des Autostoppers und des Vielfahrers wollte ich also nicht andeuten, dass der Autofahrer offen sein muss für die Geschichte des Begossenen, denn das wäre ja prinzipiell möglich (ist aber dem individuellen Gutdünken unterworfen und es wäre weltfremd, das als Imperativ formulieren zu wollen). Es geht mir eher darum, die Unmöglichkeit herauszuarbeiten. Die Unmgölichkeit betrifft zuallererst den Regen in der Situation der beiden Protagonisten des Autostopperbeispiels.

        Die Situation, in der der Gastgeber der Gast des Gastes ist, wird durch gemeinsame unangenehme Umstände erzeugt und in dieser Situation betrifft das Unangenehme beide, aber beide auf unterschiedliche Weise: der Autostopper bekommt nasse Füsse und der Autofahrer kommt nicht so schnell voran und ist müde und verspannt, weil der Regen ihm einen Zusatz an Aufmerksamkeit und Konzentration abverlangt (Nebenbei: Hier trifft die Analogie vielleicht das Befinden des Bürgers, der Müde ist von den vielen kleinen – mittlerweile hauptsächlich durch Technologien mediierten – fremden und eigenen Problemen und Sorgen, die auf ihn einprasseln). Das “hôte”-Verhältnis entsteht erst in einer Situation, in der beide von der gleichen “Störung” betroffen sind, aber beide auf eine andere Art.

        Hier setzt die Symmetrie von Gastgeber und Gast an, die der Begriff “hôte” andeutet und geht über ein asymmetrisches Gastgeber/Gast-Verhältnis hinaus: Es gibt den Austausch, die Bereicherung, aber ebenso gibt es Räuber, Schmaortzer und den bösen Schwarzen Mann (wenn man nur den richtigen Hammer hat, um ihn als Nagel zu finden); das ganze Spektrum vereint unter dem gemeinsamen Dach eines Problems: Wie können wir miteinander leben? Und dass unbedingte Aufnahmebereitschaft genausowenig wie absolute Inhibition die Antwort ist, scheint auf der Hand zu liegen, denn damit wird der Unmöglichkeit nicht Genüge getan, die darin besteht, dass die Störungen (gefährdete Menschenleben vs. Kapazitäten) sich eben nicht gegeneinander aufrechnen lassen, wie es im Gegensatz dazu in einem Gast/Gastgeber-Verhältnis getan werden kann. im “hôte”-Verhältnis besteht eine trennende Verbindung, oder eine verbindende Trennung.

        Der Punkt, an dem ich bei dem Beispiel zur Abstraktion von der politischen Debatte und vom Gastgeber/Gast-Verhältnis einladen möchte ist der, dass die Gastfreundschaft (des Gastgebers) auf beiden Seiten nicht verlangt werden kann, dass eine “Gasthöflichkeit” (des Gastes) aber sehr wohl ermöglichenden Charakter hat: Es kann ein Gastgeber/Gast-Verhältnis bestehen, auch wenn der Gastgeber das nicht will (Wirtspflanzen für Blattläsue), wenn aber der Gast nicht will, dann gibt es auch kein Gastgeber/Gast-Verhältnis (außer er wird gezwungen, etwa zu einer Haftstrafe; das würde ich allerdings nicht als “hôte”-Verhältnis betrachten, denn der Gast will nicht Gast des Gastgebers sein und der Gastgeber will hier nicht Gast des Gastes sein). Mit dem Autostopper-Beispiel möchte ich zeigen, dass beide in gleichem Maße aus dem Verhältnis aussteigen können, wenn sie nicht Gastgeber sein wollen, dass, sobald es aber von einer Seite her zum Gastverhältnis kommt, ein Verhältnis etabliert ist.

        Die Abstraktion besteht darin, dass das Konstrukt von: Gastgeber (GB) als Gastgeber des Gastes (G) – G als GB des GB (das mit dem “alle haben etwas davon” angesprochen wurde), nicht so stehengelassen werden kann, weil die Zweipoligkeit zwar eine Art “Kurzschluss” – wie weiter unten noch gezeigt wird, eine Verunmöglichung von Bewegung in eine bestimmte Richtung – verursacht, dieser aber keine wünschenswerte Lösung sein kann. Streng genommen handelt es sich nämlich um ein vierpoliges Verhältnis und den anderen beiden Aspekten muss auch entsprochen werden. Hier alle vier: GB als GB des G – GB als G des G – G als G des GB – G als G des GB. (Weitere Kombinationsmöglichkeiten wie der GB als G des GB, der G als GB des G a. ä. sind als entweder trivial oder unsinnig vernachlässigbar.)

        Kommen wir zurück auf die beiden Scharniere: Wenn nun die Gastseite als fixiert (f) betrachtet wird und die Gastgeberseite als lose (l), dann lassen sich die Argumentationen, die in Konflikt zueinaner stehen, darstellen: GBl (Gastgeber als Gastgeber des Gastes), GBf (Gastgeber als Gast des Gastes) Gl (Gast als Gastgeber des Gastgebers), Gf (Gast als Gast des Gastgebers). Eine solche Konstruktion entspricht zwei Scharnieren, die jeweils ein loses und ein fixiertes Ende haben. Betrachten wir die Situation als Konstruktion, die mit der Wendung “alle haben etwas davon” zusammengefasst wurde. Es zeigt sich im Scharnier-Bild, dass die Verbindung der beiden Aspekte GB als GB des G – G als GB des GB, also GBl -Gl jeweils die losen Enden miteinander verbinden, was einen Prozess ausschleißt, weil keinerlei Bewegung mehr möglich ist, wenn zwei jeweils fxierte Scharniere an ihren losen Enden verbunden werden. Wo allerdings Bewegung (wenn auch nur eine unmögliche) vorstellbar ist, zeigt das am Anfang dieses Absatzes vorgestellte Konstrukt, in dem zwei Scharniere jeweils an einer Seite fixiert und an einer Seite lose ist. Bewegung in eine bestimmte Richtung, nämlich um einen Punkt, ist hier möglich, wenn angenommen wird, dass die losen Enden so viel Kraft aufbringen, um die jeweils fixierte Seite zu bewegen. Natürlich ist das unmöglich, denn mit dem Aufbringen der Kraft, um die fixierte Seite zu bewegen, verwandelt sich die lose Seite proportional in die fixierte Seite – man kommt nicht aus.

        Aber wenigstens ist Bewegung möglich, wie gesagt, um einen Punkt. Diesen Punkt stellt die Frage dar: Wie können wir gemeinsam leben? Der Begriff “gemeinsam” weist auf eine Assoziation hin, auf eine Institution, ein Netzwerk, eine An- oder Versammlung. Der Begriff “leben” darauf, dass innerhalb dieser Assoziation Bestandteile entstehen und vergehen (das kann biologisch wie epistemologisch verstanden werden) und sich zu einer Lebensfrom zusammenfassen lassen.

        Eingangs sprach ich davon, eine Unmöglichkeit herauszuarbeiten: Der Regen betrifft den Vielfahrer wie den Autostopper, aber beide auf eine andere Art. Die Unmöglichkeit besteht, wie oben angedeutet, darin, die Konsequenzen der “Störung” der jeweiligen Beteiligten gegenzurechnen. Das verhindert die verbindende Trennung, die den Punkt darstellt, um den sich die Konstruktion bewegt, in der durch genügend Kraft fixierte Enden zu losen und lose Enden zu fixierten werden. Die Art der Kräfte an den jeweils losen Enden, steht in keinem Zusammenhang.

        Nach der Abstraktion solte man wieder auf der Erde ankommen und etwas Handgreifliches zu bieten haben. Schauen wir uns die Situation an, die mit der Wendung “jeder hat etwas davon” zusammengefast wurde und die ich auch als die “fremdenfreundliche” Perspektive bezeichnen würde. Eine solche politische Sichtweise lässt sich finden, man bemerkt aber schnell die Problematik, die damit verbunden ist: Wenn beide Gastgeber sind, kommt kein Gast/Gastgeber-Verhältnis (linear) und kein “hôte”-Verhältnis (wechselwirkend) zustande, denn die losen Teile werden verbunden und die fixierten können nicht bewegt werden; die Verbindung der losen Enden verhindert es, dass die Kraft aufgebracht werden kann, um das Fixierte zu bewegen und selbst zum Fixierten zu werden.

        Das zeigt sich z. B. in der Ökologiedebatte, wie sie innerhalb der Grünen Politik verhandelt wird. Ein beliebiges Beispiel: Soll man an einem bestimmten Ort Windräder aufstellen, weil dadurch saubere Energie erzegut wird, oder soll man die Windräder nicht aufstellen, weil dadurch die Landschaftsästhetik zerstört und die Tierwelt gefährdet wird? Die Motivationen beider Sichtweisen hat einen ökologisch-politischen Hintergrund, aber trotzdem stehen sie sich konträr gegenüber. Die Kraft für eine Lockerung des Fixierten kann nicht aufgebracht werden, weil beide Ansichten, als Schrniere gedacht, jeweils zwei vollkommen unterschiedliche Problemstellungen darstellen. Die Punkte, an denen sie sich fixieren wollen (saubere Energieversorgng vs. Landschafts- und Tierschutz); d. h. deren Fixierung sie auflösen wollen, sollen bewegt werden, indem an den beiden zuerst losen Enden dieselbe Kraft angesetzt wird (politische Ökologie), um dadurch die Fixierung der beiden Problembereiche zu lösen.

        Das genaue Gegenteil der oben hervorgehobenen Wendung, die wir als die “fremdenfreundliche” bezeichnet haben, stellt nicht das Gegenteil der Aussage: “jeder hat etwas davon dar”, also: keiner hat etws davon”, sondern eher ein Verhältnis von “wir verlieren, die gewinnen”, also der GB als GB des G – der G als G des GB, oder GBl – Gf, oder vielleicht sogar noch drastischer: “wir haben eh nichts, und die nehmen uns noch alles”, also der GB als (unfreiweilliger) G des G – G als G des GB, oder GBf – Gf. Die erste Aussage würde ich “gemäßigt fremdenfeindlich” nennen, die zweite “radikal fremdenfeindlich”. Bei der radikalen Vaiante zeigt sich gleich das Problem: Viele Sachverhalte werden von der Seite her angegangen, an der sie fixiert sind. An den losen Enden entsteht keine Kraft, um Bewegung zu ermöglich. Die Traditionalität der “radikal fremdenfeindlichen” Sichtweise ist trivial. Interessanter ist die “gemäßigte Varante (GB als GB des G – G als G des GB, oder GBl – Gf), denn hier scheint zumindest Bewegung möglich zu sein, ein Prozess in Bewegung gesetzt werden zu können, der Fixierungen auflöst und neue durch Kraftaufwand verankert. Der Flüchtling ist fixiert, er ist “festgestellt”, am losen Ende ist Gastfreundschaft; das zweite Scharnier ist (weil man Gastgeber und nicht Gast ist) ebenfalls in der gleichen Verankerung der Gastfreundschaft fixiert, am losen Ende ziehen die Befrüchtungen, Sorgen und Ängste. Der Flüchtling hat in dieser Konstruktion keine Möglichkeit, sich aus der Fixierung zu lösen, weil die Kraftquelle einseitig ist; wahrscheinlich zu einseitig, um beide Fixierungen (Gastfreundschaft vs. der festgetellte Flüchtling) aushebeln zu können. Vielleicht könnte man sagen: es ist nicht der richtige Kraftanwendungswinkel um einen Prozess in Gänge zu bringen, der sich um die Frage dreht: “Wie können wir miteinander leben?”, da es sich hier weniger um einen Punkt handelt, um den sich alles dreht, sondern eher um einen Vektor.

        Das sind aber, wenn auch schon etwas konkretere, dann doch noch recht abstrakte Spielereien. Meine Darstellung ist nicht nur dazu da, um gewisse Sichtweisen darstellbar- und kritisierbar zu machen, sie kann auch Lösungen bieten. Die Möglichkeit der Lösung, die mir vorschwebt, ist das (unmögliche) “hôte”-Verhältnis: Das bedeutet, dass alle vier Aspekte: GBl – Gl und GBf – Gf in der Art und Weise zusammengestellt sein müssen, dass zwei verschiedene Kräfte an den losen Enden der imagniären Scharniere zwei unterschiedliche Fixierungen lösen, wodurch sich das ganze Konstrukt, mehr oder wengier eiernd, um einen Punkt bewegt. Es “dreht sich alles” um die Frage, wie wir miteinander leben können.

        So gesehen, lässt sich z.B. der “Kurzschluss” oder die “Verkeilung”, wie sie oben angedeutet wurde, mit der die politische Ökologie zu kämpfen hat, lösen. Wenn ein Problem die saubere Energieversorgung ist und das andere der Landschafts- respektive Tierschutz, dann ist es notwendig, an den jweilis losen Enden zwei Kräfte anzusetzen, die nicht gegegerechnet werden können. Die Kraft bezogen auf die saubere Energieversorgung betrifft einen Gegenstand der politischen Ökologie, die Erde auf der wir leben, in Form von dem Planeten, der vorausgesetzt wird, um unser Energiekonsumptionsverhalten zu gewährleisten; in diesem Sinn kann man sagen, dass wir so leben als hätten wir mehrere Erden zur Verfügung. Die zweite Kraft, bezogen auf den aktuellen Zustand unseres Planeten, betrifft unsere Erde als Gegenstand, der noch nicht genau erfasst ist; wir kennen nicht alle Formen von Leben, haben noch kein Inventarverzeichnis, auf das wir unsere Überlegungen basieren könnten. Dass diese zwei Gegenstände der politischen Ökologie nicht direkt gegeneinander aufrechenbar sind, liegt auf der Hand: Die Vorstellung davon, wie viele Erden wir bräuchten, um unseren Energiebedarf zu stillen, lässt sich quantisieren, aber eben nicht die Basis, von der aus wir die Differenz berechnen.

        Ein zweites Beispiel für die Anwendung meiner Scharnier-Konzeption ist die Flüchtlingsdebatte: kurz gesagt, Ein Gegeneinander-aufrechnen ist nicht möglich, weil die Vorstellung davon, wieviele Flüchtlinge wir aufnehmen könnten nicht gegenrechenbar ist mit dem realen Platzangebot, weil man sich auf dieses nicht einigen kann; man weiß nicht (das bemerkt man, wenn man sich politischen Debatten zu dem Thema anschaut), wieviel Platz wirklich vorhanden ist, es herrscht darüber ein Unvernehmen. Will man die beiden fixierten Punkte – beim Flüchtlingsthema dem ““hôte”-Verhältnis entsprechend: Gastfreundschaft und der “festgestellte” Flüchtlinge – lösen, dann müsste man die Vorstellungen davon, wieviel Möglichkeit zur Aufnahme gegeben ist, so in der Weise mit der Einigung darüber, wieviel Möglichkeit es gibt, in Relation setzen, dass sich ein Prozess ergibt, der nicht vektorial in eine Richtung verläuft, sondern sich um den Angelpunkt der vorgestellten Frage dreht. Es handelt sich dann weniger um einen Prozess der “geht”, sondern eher um einen des “kontrollierten Fallens”. Die Unmöglichkeit besteht darin eine Einigung zu finden, wie dieser Prozess des “kontrollierten Fallens” angesetzt werden soll.

        Zugegeben, ich verlange da eine Abstraktion, die das Autostopper-Beispiel nicht recht veranschaulichen kann, ebensowenig etwa das Beispiel mit den Seegrundstücken, die nicht für alle ausreichen, denn es wirkt kontraintuitiv zu sagen, dass wir nicht genau wissen, wieviel Platz im Auto, respektive wieviele Grundstücke am See es gibt. Wie gesagt wollte ich das Beispiel aber auch nicht nur als Argument für eine politische Debatte heranziehen, sondern verlange eben eine gewisse Abstraktion, die mit den drei Kritikmöglichkeiten, so wie sie weiter oben beschrieben wurden, nicht getroffen werden kann. Trotzdem hoffe ich, dass das Beispiel – unter Berücksichtigung der Konzeption, die ich damit verbinden möchte – für eine philosophische Diskussion meiner Meinung nach relevante Aspekte veranschaulichen helfen kann.

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