All inclusive? Zwei Exzesse.

Gestern sprach Christian Kern bei der Regenbogenparade in Wien. Der gemeinsame Feind sei der Hass, die Intoleranz und die Gewalt. Und was wir brauchen ist ein “wir” in dem alle inklusive sind. Zugestanden, eine zielgruppenspezifische Rede. Sie gibt Anlass zu Überlegungen.

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Die Alternative zwischen dem alle inkludierenden “Wir” und dem “Wir”, das durch den Hass auf andere entsteht, ist eine Verengung der Sicht, eine politische Vereinfachung der individuellen Möglichkeiten. Auch wenn der Versuch der Inklusion ein vernünftiger ist, den jeder Projektleiter angeht, um sein Team auf eine Linie zu bekommen. Man kann in einem Land, das der Staat zu verwalten hat, nie alle inkludieren. Darum ist die individuelle Haltung wichtig.

Ein Umweg über die Sufi-Mystikerin Rabi’a aus dem 8. Jahrhundert kann den Blick modifizieren (und problematisieren).


Ja, die Politik muss alle mitnehmen. Die Zählung der Bürger, und dass man auf sie zählen kann, diese Bemühung ist wichtig für das Funktionieren eines Staats. Wie aber verhält man sich denen gegenüber, die nicht inkludiert sind, weil sie noch nicht (ausreichend) erfasst sind? Die “illegalen Migranten”, die Zugereisten? Ist das überhaupt eine Frage des Staatsapparats? “Alle Menschen sind gleich an Rechten”, ist keine Beschreibung einer Tatsache, sondern ein politisches Programm, das eigentlich über die Möglichkeiten des Staats hinausgeht. Alle Menschen… hat eine überzählige Extension.

Ich beginne bei der Annäherung an die islamische Mystikerin und Heilige Rabi’a durch die Mystik-Forscherin Margaret Smith: “Rabi’a The Mystic A.D. 717-801 and her fellow saints in Islam” (1928). Soweit überliefert hat Rabi’a in der islamischen Mystik eine Innovation eingeführt, in der die primäre Quelle eines Heiligen der Wunsch nach Vereinigung mit dem ist, der außerhalb steht: Gott. Es geht nicht primär darum, Ihn in den Dingen zu sehen, die innerhalb der Welt sind. Es geht nicht darum, sich eine Belohnung zu erhoffen und eine Bestrafung zu ersparen. Diese radikale Einstellung geht soweit, dass es egal ist ob das Paradies oder die Hölle existieren. Man soll sich zuerst um Freundschaft mit dem Außenstehenden bemühen (“First the neighbour, then the house”):

“I am going to light fire in Paradise and to pour water on to Hell so that both veils (i.e. hindrances to the true vision of God) may completely disappear from the pilgrims and their purpose may be sure, and the servants of God may see Him, without any object of hope or motive of fear. What if the hope of Paradise and the fear of Hell did not exist? Not one would worship his Lord or obey Him.

Al-Ghazali, in dealing with the love of the servant for his Lord, relates that Rabi’a al-‘Adawiyya said one day when in the company of the Sufis, “Who shall lead us to our Beloved?” and her servant (probably that ‘Abda bint Shuwal, who had learnt much from her mistress) answered, “Our Beloved is with us, but this world cuts us off from Him”. Then someone asked Rabi’a, “What is your love to the Apostle of God like?” and she replied, “Verily I love him greatly, but love of the Creator has turned me aside from love of His creatures.”
(S.98f)

Im Islam ist Gott eher ein Waise als ein lieber Vater… wohlgemerkt: ein mächtiger – und tendiert zur Eifersucht (Ist das nicht bereits ein Ansatz jener Einstellung, die ihre Identität darauf aufbaut, dass uns jemand etwas wegnimmt… in diesem Fall die Welt, die uns den Zugang zu unserem Geliebten verstellt?). Jedenfalls: Noch vor der Angst und der Hoffnung kommt das Kennenlernen. Hier kann man auf keine andere Instanz vertrauen als auf sich selbst, nicht einmal auf Propheten. Das ist der Charme von Mystik.

Aber langsam. Es gibt hier eine Vorentscheidung, nämlich: Die Überwindung der Kluft zwischen mir und dem Außenstehenden ist erstrebenswert und bedarf einer Abwendung von dem was mir allzu-nahe ist. Warum? Kann man diese Frage beantworten? Im Sinne von Rabi’a müsste man zurückfragen: Warum liebt man jemanden und nur ihn? Da hilft – zunächst – keine Liste von Gründen. Es passiert.

Für den Start kann dieser Grund dienen: Weil die Welt und man selbst durch den Außenstehenden konstituiert wird. Der Außenstehende ist der unsichtbare Referenzpunkt, durch den ich ganz werden kann, wenn ich auf ihn höre. Ein Vorteil also für die Sterblichen?

Hierbei bleibt es nicht. In einer der bekanntesten Überlieferungen von Rabi’a unterscheidet sie zwei Arten von Liebe:

I have loved Thee with two loves, a selfish love and a love that is worthy (of Thee),
As for the love which is selfish, I occupy myself therein with remembrance of Thee to the exclusion of all others,
As for that which is worthy of Thee, therein Thou raisest the veil that I may see Thee.
Yet is there no praise to me in this or that,
But the praise is to Thee, whether in that or this.

(S.102f)

[… Rabi’a] seems to have been chiefly concerned to distinguish between the love towards God

– which finds a satisfaction for itself and seeks to gain something for itself, out of loving Him, even though it loves Him exclusively, and which is therefore only of the same type as the human love of the lover for the beloved, which includes its own satisfaction and enjoyment as a result of loving –

and the love which seeks nothing for itself, but only the glory of the beloved, a height to which the love of one human being for another rarely attains. The former has always some taint of selfishness, but in the second type the soul is content to seek only the glory of God and to carry out the will of the Beloved, even to its own hurt, and in beholding the Vision of the Everlasting, is content.

[…] To sum up Rabi’as teaching on Love, that is the love of the servant to the Lord: she teaches, first, that this love must shut out all others than the Beloved, that is, the saint must turn his back on the world and all its attractions, he must cut himself off from the creatures of God, lest they should distract him from the Creator, he must even rise above the claims of the senses and allow neither pleasure nor pain to disturb his contemplation of the Divine. To Rabi’a God seemed to be a jealous God[…]”

(S.107f)

Das ist ziemlich viel Voraussetzung für eine Gesellschaft mit säkularem Selbstverständnis. “Grenzen überwinden” ist jedoch ein Slogan den wir gut kennen in aktuellen politischen Diskussionen. Die Grenzen sind hier Abgrenzungen in der Welt, Unterteilungen. Und die Außenstehenden sind auch Körper in der Welt, bei der es ein Minimum an Verwaltung bedarf, und nicht Verschmelzung. Man kann das Ziel verfolgen, die Abgrenzungen zu überwinden und damit anders zu gestalten. Das sind alles Fragen der Staatskunst.

Nicht so in der Spähre der Mystik, und auch nicht bei der individuellen Begegnung von Fremden. Hier geht es nicht zuerst um Gestaltungen der Welt, sondern um eine Haltung.

Die Konstellation ist jene: Der Außenstehende ist nicht auf dieselbe Weise hier wie ich. Was heißt es dann, auf ihn zu hören? Die absichtliche Gestaltung, z.B. der Inklusion, tritt in den Hintergrund und das Vernehmen wird wichtig. Hören kann man nur, wenn jemand spricht, und zwar verständlich. In der Mystik wohl eher eine Sprache, die viel mit Stille spricht.

Es geht um ein Wir, oder eine Vision von Wir, die nicht mit den Gleichgestellten und dem Ähnlichen paktiert, sondern den Wunsch hat, mit dem Ungleichen, mit dem als höhergestellt gedachtem, eins zu werden. Zumindest ist das die Zielrichtung.

Nun ist jemand, der herkommt nicht Gott. Eher ein Nachbar, ein potenzieller Freund. Gelegentlich gefährlich. Was auch gefährlich ist, und damit endet fürs Erste mein Exkurs in die (islamische) Mystik, ist der Endzustand der Vereinigung. Margaret Smith zitiert den christlichen Mystiker Suso:

“The highest state of union is an indescribable experience, in which all idea of images and forms and differences has vanished. All consciousness of self and of all things has gone, and the soul is plunged into the abyss of the Godhead and the spirit has become one with God.. In this highest state God becomes the inner essence, the life and activity within, so that whatever the person does, it does as an instrument… Like a being which loses itself in an indescribable intoxication, the spirit ceases to be itself, divests itself of itself, passes into God, and becomes wholy one whith Him, as a drop of water mingled with a cask of wine. As the drop of water loses its identity and takes on the taste and colour of the wine, so it is with those who are in the full possession of bliss; human desires influence them no longer; divested of self they are absorbed in the Divine Will and become one with it.”
(S.110)

Der außergewöhnliche Zustand der Vereinigung ist unheimlich, ein seltenes Ereignis, ein Überschuss auf der individuellen Ebene. Ein Mensch allein kann das nicht schaffen. Darum preisen Mystiker Gott für solche Ereignisse.

Die Rede vom Einschluss aller ist ein Überschuss auf politischer Ebene. So etwas kann der Staat nicht alleine erreichen.

Auch die Rede von der unbedingten Toleranz kommt leicht ins Fahrfasser der Gleichgültigkeit (oder Charakterlosigkeit), weil es sich um eine Überforderung handelt. [1. Zu dem Thema der Tolanz und Gleichgültigkeit bei Homosexualität zwei Hinweise:

  • Aus einem Vortrag von Ash Beckham: “People often say to me, ‘Well, Ash, I don’t care. I don’t see race or religion or sexuality. It doesn’t matter to me. I don’t see it.’ But I think the opposite of homophobia and racism and xenophobia is not love, it’s apathy. If you don’t see my gayness, then you don’t see me.
  • Ein spannender Podcast in dem Zusammenhang kommt von der Sexualwissenschaftlerin und Psychoanalytikerin Sophinette Becker: “Geschlecht und sexuelle Orientierung in Auflösung. Was bleibt?” Sie wundert sich über die Tatsache, dass im Umfeld der Psychoanalytiker ur-plötzlich, also ohne einen Diskurs, die Meinung über Homosexuelle umgeschwenkt hat, von “potenziell pathologisch” zu “passt schon” (hörbar ab Minute 52):
    • “Warum hat man früher so gedacht und warum denkt man jetzt anders? … Ich habe einmal einen von mir geschätzten Wiener Analytiker gefragt ob ich zurecht annehme, dass er Heterosexualität doch irgendwie für reifer als Homosexualität hält. “Schon”, antwortete er. “Weil Begehren Fremdheit und Differenz voraussetzt.” Letzterem stimme ich zu. Aber garantiert der anatomische Geschlechtsunterschied diese Differenz? Den Eindruck habe ich bei vielen Paaren – vor allem bei lustlosen – oft nicht. Und woran macht sich diese Differenz bei gleichgeschlechtlichen Paaren fest? Die klassische Antwort auf diese Frage war die Unterstellung der Übernahme von Frau- und Mann-Rollen oder Imitationen derselben innerhalb des Paares. Das ist natürlich ein heteronormatives Klischee. … Ich fand die Aussage des Wiener Analytikers gut und produktiv, weil sie nicht politisch korrekt sondern authentisch war und geeignet im Sinne der Selbstaufklärung der Psychoanalyse betreffs Homophobie. Ich finde das besser als die Nicht-Durcharbeitung der Denk-Zwischen-Schritte von Pathologisierung zu Nicht-Pathologisierung der Homosexualität, weil die nämlich oft mit Äußerungen einhergeht, wie: “Man darf es ja heute nicht mehr sagen, aber…”.]

Aber die Richtung ist interessant. Angst und Hoffnung als Grundgefühle sind sekundär. Sie kommen vom Umgebungsrauschen und verstellen eher die Sicht auf die aktuelle Situation. Insofern hätten FPÖ-Wählerinnen und Grüne die gleichen Chancen einer individuellen Begegnung mit Fremden. 🙂

3 thoughts on “All inclusive? Zwei Exzesse.

  1. “Alle Menschen… hat eine überzählige Extension.” Das leuchtet zunächst nicht ein. Man könnte erwidern, dass die Extension eben die Menge aller Menschen ist – und das ist eine legitime Menge, keine Klasse.

    Aber der Satz fällt im Zusammenhang mit Staaten, die das Wohl und Wehe aller Menschen mit zu berücksichtigen haben.

    So hat das Verwaltungsgericht Minden am 10.5.2016 entschieden, dass ein Asylwerber, der in Italien subsidiären Schutz erhalten hatte, nicht nach Italien zurückverwiesen werden darf, weil dort für ihn keine menschenwürdigen Verhältnisse herrschen. Nimmt man diese Entscheidung beim Wort, so ist der deutsche Staat verpflichtet, alle Personen aus Ländern aufzunehmen, die nicht dem deutschen Verständnis solcher Verhältnisse entsprechen. Und das kann man tatsächlich eine überzählige Extension nennen.

    Zur Mystik komme ich (in diesem Beitrag) erst im übernächsten Absatz. Ich nähere mich dem Thema, das Andreas im Auge hat, über ein handfest irdisches Phänomen, das aber alles andere als trivial ist.

    Mit “alle Menschen” ist auch gemeint: alle, die Vater und Mutter haben; die Summe der Nachkommenschaften. Sehen wir uns an, wie im Prinzip das Verhältnis einer Mutter zu ihren zwei Töchtern aussieht. (Nicht psycho-dynamisch, sondern als ontologische Relation.) Hier besteht eine Asymmetrie. Eine Mutter kann mehrere Töchter haben, aber diese mehreren Töchter teilen sich eine Mutter. Das Verhältnis der Mutter zu den Töchtern ist inklusiv. Es führt kein Weg daran vorbei, dass sie in gleicher Weise die Mutter aller ihrer Töchter ist. Umgekehrt ist aber in den Status einer von zwei Töchtern die Exklusivität eingeschrieben. Während es zur Definition der Mutter gehört, dass ihre Töchter gleichermaßen zur mütterlichen Existenz gehören, gilt für die Töchter, dass sie die gemeinsame Mutter nicht ungeteilt für sich beanspruchen können.

    Wenn man das Geschlecht wechselt und einen kurzen Blick auf Andreas’ Ausführungen wirft, kommt man auf ein weit verbreitetes religiöses Motiv. Menschen haben alle einen gemeinsamen Vater und sind doch untereinander verschieden und unabwendbar in Konkurrenz. Sie lieben ihren Vater insofern sie von ihm Licht und Leben brauchen und erwarten, also zur Selbsterhaltung. Und was ist mit der “reinen” Liebe, in der dieser Egoismus keine Rolle mehr spielt? Sie löst die Nachkommenschaft auf! Sie bedeutet, sich aus der zunächst gegebenen Grundverfassung “aller Menschen” herauszuturnen. Sie stellt den Anspruch dar, den Status als Nachkomme von Seiten des Vaters her einzunehmen, nämlich in integraler Teilnahme an der Souveränität des Schöpfers. (Und was heißt dann noch “Teilnahme”?)

    Im vorigen Absatz ist die Schwierigkeit angedeutet, in die man gerät, wenn man sich der klobigen Grenzziehung zwischen dem Eigenen und dem Außenstehenden begeistert nähert.

  2. Herbert unterscheidet zwischen Ontologie und Psycho-Dynamik von Kind< ->Elternteil, um eine Asymmetrie herauszustellen, die auch in der Religion Relevanz hat. Aus ontologischer Sicht ist die interesselose Liebe ein Versuch der Auflösung einer Ordnung, indem man die Differenzierung eines Teils als Teils verneint und das Ganze affirmiert. Das führt zur berechtigten Frage, was dann “Teilnahme” heißen soll, wenn es den Teil nicht mehr als solchen gibt, sondern nur noch das Ganze.

    Dazu muss man sagen: Liebe kann nicht ausreichend mit ontologischen Mitteln erfasst werden. Sie hat die ontologischen Verhältnisse als Vorgabe und spielt sich mit deren Hilfe ab. Sie mag die Verhältnisse modulieren, aber ihr Ziel der Verschmelzung (durch das sie Auswirkungen auf die ontologischen Relationen hätte) erreicht sie nicht, nicht nachhaltig.

    Man kann es vielleicht so sagen, dass die (egoistische) Liebe die ontologischen Verhältnisse eher affirmiert, und sich arrangiert. Im nächsten Schritt: Die (interesselose) Liebe nimmt die Verhältnisse zwar zur Kenntnis, nimmt sie aber nicht als Maßstab, weil sie merkt, dass noch nicht alles erfasst ist. “Warum die Teilung?”, fragt sie. “Ich will die Distanzen überwinden und der(/dem/denen )näherkommen, die(der) für meine Existenz und die Existenz aller von Bedeutung ist (sind).”

    Die (interesselose) Liebe ist praktisch immer vermischt mit einem Interesse (das man zur Verdeutlichung ausblenden kann. Im extremen Fall der Mystik wird aus dieser Verdeutlichung eine Lebensaufgabe). Die Liebe löst das ontologische Verhältnis zwischen Eigenem und Außenstehenden nicht auf. Denn sie erreicht dieses Ziel nicht. Sie kann nicht _wirklich_ auf die Seite des Außenstehenden wechseln. Der höchste Zustand, von dem die Mystik schwärmt, ist nicht stabil. Eine Liebe, die ihr Ziel erreicht hat, gibt es nicht mehr.

    Im Bereich der Politik und Wirtschaft gesagt: Eine Vision ist nicht da um sie zu erreichen, sondern sie gibt eine inspirierende Richtung zur Orientierung vor. Das kann positive und negative Auswirkungen haben.

    Kurz: Eine praktische (positive) Auswirkung der Liebe ist nicht die Aufhebung der Verhältnisse, sondern eine modifizierte Art der Traversierung — eine Umdeutung des Bestehenden. Eine negative Auswirkung wäre der Verlust der Konturen des Eigenen, wenn sie Anspruch und Tatsachen verwechselt — eine ersatzlose Auflösung des Bestehenden. Wobei man dazusagen muss: Jeder Umbau und Ausbau braucht Phasen der Unordnung.

    Abgesehen von den staatlichen Zusammenhängen: Was auch überzählig ist, bei Menschen, ist der Anspruch (“jemand/etwas spricht mich an” / “sagt mir zu”), welcher nicht verdinglicht werden kann. Und will man ihn verdinglichen, verändert er die Art, wie man redet. Zum Beispiel taucht er bei den Mystikern auf als scheinbare Tautologie oder als Oxymoron (Michel de Certeau:Mystische Fabel. Suhrkamp. Berlin 2010 S.232ff):

    Scheinbare Tautologie:

    “Ein selbst schon ambivalenter Terminus könnte jene Verfahren definieren, die die Sprache aus ihrer natürlichen Funktion herauslösen, um sie entsprechend den Leidenschaften von Sprechersubjekten zu modellieren: die Adresse; denn einerseits obsiegt die Destination des Diskurses über die Gültigkeit des Aussageinhalts (es handelt sich um “adressierte” Worte, ohne dass man letztlich wissen kann, von wem und an wen sie adressiert sind), andererseits zielt eine gewisse Fertigkeit darauf ab, in den Wörtern durch deren Korrelationen mit anderen die Möglichkeiten zu wecken, die die Dominanz der bezeichneten Sache im Schlummer festhielt (eine emanzipatorische Technik setzt in den Wörtern die relationalen Spiele und Bewegungen frei, die der Gehorsam gegen die Dinge lähmte). Ein Spiel der Adresse(n) also. […]

    Diese mystische Wissenschaft konstituiert sich nicht durch die Schaffung eines kohärenten sprachlichen Körpers (das heißt eines wissenschaftlichen Systems), sondern durch die Definition legitimer Operationen (das heißt eine Formalisierung der Praktiken). Es ist paradox: Diese Wissenschaft, die sich als Sprache herausgebildet hat, hält sich nur dadurch, dass sie stabile Praktiken bezeichet, deren instabile und variable Ergebnisse die Wörter sind. Folglich zerfällt sie, wenn sie diese Operationen nicht mehr miteinander verbinden kann.

    […] Wenn Teresa von Avila am Anfang der Morades, jener Grundtopik von der Seele als menschlicher Wohnung und Gott als einzigem Bewohner, schreibt: “Ihr müsst aber verstehen, dass es zwischen Drinnensein (estar) und Drinnensein (estar) einen großen Unterschied gibt”, unterscheidet sie zwei Verwendungsweisen desselben Wortes durch die Operation, die sie trennt. Eine Praktik schafft den Unterschied zwischen ihnen. Daher wird ein Terminus “mystisch” durch den Weg (die “Einkehr bei sich selbst”), der seine Verwendung begründet. Eine Reise des Sprechers produziert die Verschiebung des Sinnes.”

    Oxymoron:
    “zärtliches Brenneisen”, “schweigende Musik” (Johannes von Kreuz): Die Bestandteile der Phrasen kommen aus unterschiedlichen Ordnungen. Die Phrasen verkörpern die oben beschriebene Situation, dass die Liebe nicht zu einem stabilen Endzustand kommen kann. Teil und Ganzes sind zwar aufgehoben, man hat aber nicht die Privilegien, die Sicht des Ganzen einzunehmen. Man versteht die Teile, die nicht zusammenpassen, aber doch andeuten, dass sie zusammenpassen könnten. Das Ganze ist unverständlich und gibt vor, einen Sinn zu haben, der sich uns entzieht:

    “Eine initiale Spaltung macht die “ontologische” Aussage unmöglich, die das Gesagte der angezielten Sache wäre. Die mystische Phrase entzieht sich dieser Logik und ersetzt sie durch die Notwendigkeit, in der Sprache nur mehr Wirkungen zu erzielen, die relativ sind zu dem, was nicht in der Sprache ist. Was gesagt werden soll, kann nur gesagt werden durch ein Aufbrechen des Wortes. Eine innere Spaltung macht, dass die Wörter den Verlust eingestehen oder bekennen, der sie von dem trennt, was sie zeigen. […] Dieser Schnitt hat Sinn, aber er liefert ihn nicht.”

  3. “Warum die Teilung?” ist eine zentrale Frage. Sie ist vielfältig anwendbar, von der Teilung einer Nation zum Aufruf, etwas vom eigenen Luxus abzugeben, zum allzu klugen “divide et impera”. Und, wie Andreas ausführt, als grenzüberschreitender Impuls “liebender” Vereinigung. Was hat dieser Impuls der Politik zu sagen?

    Die Liebe, lassen wir es bei diesem evokativen Terminus für die selbstlose, mystische Haltung (http://www.ekd.de/paulus/1kor13.html), nimmt die Ordnung nicht zum Maßstab, damit bin ich einverstanden. Ich frage mich, ob sie die Verhältnisse “zur Kenntnis nimmt”. Vielleicht ist das darin enthalten, dass sie sich über sie hinwegsetzt. Mir scheint eher, dass sie ihr fremd sind, dass sie sie nicht einmal ignoriert.

    Ist diese Liebe eine Gegenkraft? Mystiker sind nicht bekannt für politische Programme. Es ist schon wahr, als “Heilige” besitzen sie eine Ausstrahlung, Charisma. Simone Weil ist mitreissend. Möchte man sie wirklich zur Beauftragten für Immigrationsfragen machen? Das fragt sich Andreas auch.

    Er sieht die Chance der Liebe in einer Umdeutung der verdinglichten Verhältnisse. Darüber herrscht Einigkeit. Diese Inspiration übersteigt die Institution. Und die Gefahr sei die Auflösung der Ordnung. Auch wahr, wobei er sich mit dem Hinweis darauf, dass etwas Unordnung sein muss, in dieser Hinsicht ein wenig parteilich äußert.

    In diesen Einschätzungen sind wir, vermute ich, nicht weit voneinander entfernt. Aber es besteht noch eine andere Gefahr. In diesen Gegenüberstellungen figuriert “die Liebe” als Wirkungskraft. Zwar nicht nachhaltig, aber dafür mit einer Reihe schöner Eigenschaften versehen, “as long as it lasts”. Das Hohe Lied bleibt kein interesseloser Lobgesang, es leistet Arbeit in Trauungszeremonien.

    Die unbegrenzte Gastfreundschaft wird bisweilen den “verhärteten Herzen” der professionellen Politikerinnen entgegengesetzt. Das ist der falsche Weg.

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