gratia gratum faciens

gratia

 

Im vorhergehenden Beitrag holt sich Andreas zur Orientierung über die Fremden an unseren Grenzen Hilfe von höchster Stelle, beim Gottesverhältnis der arabischen Mystikerin Rabi’a. Es geht über die irdischen Exklusionen hinaus und erfüllt sich in selbstloser Liebe zum ganz Anderen. Grundlos, einfach weil es so ist.

Aber langsam. Es gibt hier eine Vorentscheidung, nämlich: Die Überwindung der Kluft zwischen mir und dem Außenstehenden ist erstrebenswert und bedarf einer Abwendung von dem was mir allzu-nahe ist. Warum? Kann man diese Frage beantworten? Im Sinne von Rabi’a müsste man zurückfragen: Warum liebt man jemanden und nur ihn? Da hilft – zunächst – keine Liste von Gründen. Es passiert.

Diese Auskunft provoziert, das weiß Andreas gut, skeptische Bedenken. Mit einer “reinen Liebe” kann man nicht diskutieren. Darauf könnte man antworten, das sei kein bug, sondern ein feature. Bedenklich ist aber, zweitens, dass ohne Diskussion keine Politik möglich ist und dass daher die Hilfe von oben notgedrungen appellativ wird. Ich steige die Stufenleiter der religiösen Eskalation etwas hinunter und versuche das Thema mit einem scholastischen Motiv aufzunehmen. Thomas von Aquin hat sich mit der Frage beschäftigt, wie die unermessliche Kluft zwischen Mensch und Schöpfer zu überbrücken sei. Das ist Teil seiner Lehre von der göttlichen Gnade [1. “Deinde considerandum est de divisione gratiae. Et circa hoc quaeruntur quinque. Primo, utrum convenienter dividatur gratia per gratiam gratis datam et gratiam gratum facientem. Secundo, de divisione gratiae gratum facientis per operantem et cooperantem. Tertio, de divisione eiusdem per gratiam praevenientem et subsequentem. Quarto, de divisione gratiae gratis datae. Quinto, de comparatione gratiae gratum facientis et gratis datae.” Thomas von Aquin, Summa Theologica, 2.Teil. Quaestio 111], nach der dieser Liebesvollzug nur durch göttliches Entgegenkommen möglich ist.

Diese Sprache verleitet zum Schwärmen. Es ist instruktiv, den Sachverhalt in der unnachahmlichen Trockenheit des katholischen Dogmatikers Joseph Bautz’ (aus 1903) auszudrücken:

Die gratia gratum faciens wird mit Rücksicht auf ihre Wirkung in gratia habitualis und gratia actualis eingeteilt. Die erstere erteilt der Substanz der Seele eine dauernde übernatürliche Seinsweise (gratia sanctificans), den Seelenpotenzen aber übernatürliche Fähigkeiten (virtutes infusae) zu übernatürlichem Handeln. [2. http://bit.ly/29xnLIz]

Die Grundidee besteht darin, dass Gott einen Vorschuss leistet, damit das Verhältnis zu ihm überhaupt möglich wird. Die Gottesliebe sollte man sich nicht so vorstellen, dass sich die Seele mit einem tollkühnen, selbstvergessenen Akt zu IHM aufschwingt, sondern als das Ergebnis einer Entwicklung, in der von einer Seite Liebe investiert wird, bevor es Gegenliebe geben kann. Das klingt unromantischer, als man es von Mystikerinnen gerne hören würde. Gott ködert uns, um es respektlos zu sagen.

Auf politische Zusammenhänge bezogen ist der verminderte Enthusiasmus nicht unpraktisch. Man steht nicht mehr vor der Aufgabe, im Anderen das ganz Andere wahrzunehmen und als braver Teilnehmer am jüngsten Gericht Christus in jedem Fremden gesehen zu haben. Sondern man kann sich überlegen, wo und inwiefern diese Strategie der Vor-Investition (“seed money”) Erfolg verspricht.

Thomas hat Bedingungen ausgetüftelt, unter denen mit dem ganz Anderen umgegangen werden kann. Wie sind sie auf den Umgang mit dem ganz Anderen anzuwenden?

One thought on “gratia gratum faciens

  1. Es scheint, als lege die Frage nach dem Umgang mit anderen eine Bestimmung des “Wir” nahe. In Untersuchungen über die Wahrheit, zehntes Buch, neunter Artikel, schreibt Thomas von Aquin über die Gewohnheit:

    “Die Erkenntnis nämlich, wodurch jemand weiß, daß er eine Gewohnheit besitzt, setzt eine Kenntnis voraus womit er erkennt, was jene Gewohnheit ist: denn ich kann nicht wissen, daß ich Liebe in mir habe, wenn ich nicht weiß, was Liebe ist.”

    Dieses Erkennen durch das Er- oder Bekannte möchte ich mit der Vorstellung eines “Wir” in Verbindung bringen.

    Etwas später im Text bezieht sich Tva auf Augustinus und stellt dem eben Angesprochenen ein Komplement zur Seite:

    “Die Gewohnheit ist nicht Ursache für die Erkenntnis von etwas anderem im Sinne von etwas, durch dessen Erkenntnis anderes erkannt würde, so wie die Prämissen Ursache für die Erkenntnis der Schlußfolgerungen sind. sondern weil durch die Gewohnheit die Seele dazu fähig gemacht wird, etwas zu erkennen; und so ist sie nicht [Hrvg. bg] im gleichen Sinne gleich benannte Ursache der erkannten Dinge, wie ein Erkanntes Ursache eines anderen ist, sondern sie ist eine gleichnamige Ursache, die aber nicht im selben Sinne benannt ist: sowie die Weiße etwas weiß macht, obwohl sie selbst nicht weiß ist, sondern das ist, wodurch etwas weiß ist.”

    Dieses Erkennen ohne das Er-, bzw. Bekannte möchte ich mit der Vorstellung eines “Uns” (wie in “Vater unser”) verbinden.

    Das “Wir”, so möchte ich behaupten, lässt sich direkt, als Aufzählung, oder indirekt unter Bezug – im Sinne einer Abgrenzung – auf das Andere bestimen: Wir Sterblich (und die ganze Schöpfung dazu) in Abgrenzung zum Göttlichen; wir Staatsbürger Österreichs, in Abgrenzung zu Nichtösterreichern; wir, die wir das lesen, im Gegensatz zu allen anderen, usw. Allerdings müssen solche Bestimmungen unabgeschlossen bleiben, da die direkte ebenso wie die indirekte Bestimmung entweder Auslassungen oder ungerechtfertige Einschlüsse beinhalten kann: wenn ein Politiker etwa von einem “Volk” spricht, ist diese Reduktion meist problematischer, als es prima vista den Anschein hat, weil die Definitionskriterien nicht erschöpfend angegeben werden können, denn man kann z. B. rein faktisch zu einem Volk gehören, sich aber trotzdem dem darauf aufbauenden “Wir” nicht zugehörig fühlen.

    Dieser direkten und indirekten Art der Bestimmung des “Wir” möchte ich das “Uns” zur Seite stellen, denn dabei handelt es sich um etwas nicht direkt und auch nicht über Negation Definierbares, sondern um eine von außen vorgenommene Bestimmung. Diese hat Ähnlichkeit mit der indirekten Bestimmung, unterscheidet sich aber dahingehend davon, dass es ohne die äußere Bestimmung, die im Fall des “”Wir” nur eine Stabilisierung des positiv Formulierten ist, überhaupt keine positive Bestimmung gibt. Mein Gedanke ist, dass das “Wir” etwas Aktives ist und das “Uns” etwas Zukommendes, Passives. Das “Uns” betrifft uns, wenn etwas passiert, das ein “Wir” erzeugt.

    Die Bestimmung des “Uns”, das möchte ich zur Diskussion stellen, ist – leichter als beim “Wir” ersichtlich – unabgeschlossen und nie vollständig. Andere äußere Umstände bedingen ein anderes “Uns”, selbst dann, wenn weiterhin von einem “Wir” gesprochen wird.

    Wenn dieses “Uns” als vergleichbar mit der “Weiße” bei Augstinus (nach Aristoteles) betrachtet wird, dann ist es das Gruppierende, aber nicht die Gruppe. “Es betrifft uns!” ist eine Aussage, die ein “Wir” erzeugt, ohne dieses näher bestimmen zu können, denn die Frage: “Aber wer sind wir?” folgt immer auf dem Fusse und erfordert eine andere Antwort als die, die das “Uns” zu geben vermag.

    Das “Wir” lasst sich als sichtbares System von Relationen und Ausschlüssen sichtbar machen (obwohl diese Aufzählung kontingent bleiben muss), das “Uns” ist vergleichbar mit einem Netzwerk, das nur über seine Wirkung erkennbar zu machen, also nicht direkt sichtbar zu machen ist.

    Mein Vorschlag ist, dem im obigen Eintrag formulierten Anspruch, sich dem Anderen zu nähern, dadurch nachzukommen, dass von einem “Uns” gesprochen wird, bevor wir von einem “Wir” reden. Der Vorteil, der sich meiner Meinung daraus ergibt ist, dass dabei das Andere immer bereits miteinbezogen werden muss. – Das scheint nur auf den ersten Blick komplizierter zu sein als die Bestimmung des “Wir”. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass dann nicht mehr über etwas Essentielles, sondern bloß über zukommende Eigenschaften gesprochen werden muss.

    Ein Beispiel für eine solche herangehenswiese wurde eingangs kurz erwähnt: Ein “Uns” lässt etwas in Abhängigkeit von einem unbekannten Anderen bestimmen, während ein “Wir” dieses Andere nicht voraussetzt; die Sterblichen sind durch das Göttliche geeint, auch wenn dieses nicht bestimmbar ist – ein “Wir” bezieht das Göttliche nicht notwendig (und wenn dann nur ex negativo) mit ein.

    Ein anderes Beispiel stellt der Klimawandel dar. Er betrifft auch diejenigen, die nicht an ihn glauben, weil sie wissenschaftlichen Fakten misstrauen. Ein “Wir” setzt im Falle der Klimawandeldebatte Fakten voraus, während das “Uns” auch ohne die Bekanntheit dieser Fakten vereint.

    Thomas von Aquin zitiert nach: Hampe, M. und Lindén, J.-I. (1993) – Im Netz der Gewohnheit. Ein philosophisches Lesebuch; Junius; Hamburg

    Eine kleine Ergänzung: In einem Absatz des “Vater unser” gibt es eine Spannung, die zwischen dem “Vater unser…” und dem “…Dein Reich komme…” besteht. Hierzu ein Zitat aus einer einigermaßen aktuellen Herrengebets-Exegese von Alfons Knoll, das diese Spannung ausdrückt:

    “Denn wenn es bereits „Söhne“ und „Töchter“ sind, die das Kommen des Reiches zu ihrer Sache machen, so sind sie ja bereits mit Gott versöhnt – denn darin besteht ja ihre Annahme an Kindes Statt! Dennoch ist eben dieses Reich immer noch am Kommen; seine endgültige Durchsetzung erweist sich als mühsam; es gibt weiterhin erbitternden Widerstand gegen Gottes Herrschaft.” (9)

    Dass die Sterblichen bereits “Vater” sagen dürfen, spricht für die Königsherrschaft Gottes ebenso wie für die Nähe, die Jesus zu Gott hatte – was sich darin ausdrückt, dass Gott von ihm immer als “Vater” ansgeprochen wurde. Diese Nähe dürfen wir auch erfahren, weil wir durch Jesus mit Gott versöhnt wurden. Die Spannung liegt, so möchte ich zeigen, darin, dass das “…Dein Reich komme…” andeutet, dass das Reich noch nicht da ist, wir aber trotzdem schon “Vater” zu Gott sagen dürfen.

    Den “Widerstand”, oder die “Unversöhntheit” versteht Knoll zum einen als den individuellen Zweifel am Reich Gottes und als Sünde und zum anderen als diejenigen Teilnehemr an der Gesellschaft, die durch Zweifel, zwischenmenschliche Unversöhntheit und Sünde dem Reich Gottes im Wege stehen.

    Dass wir “Vater” sagen dürfen geschieht nicht dadurch, dass das Reich uns schon in sich verortet hätte, denn dann müssten wir nicht danach bitten, dass es uns widerfährt. Aber weil uns die Anrede “Vater” schon vorher vereint, ist das “Wir” (mit all seinen Widerständen) etwas später Kommendes. Zwischen dem einigenden “uns” und dem widerständigen “Wir” besteht eine Spannung, die provisorisch durch das “Uns” versöhnt wird.

    Auch wenn keine Versöhnung zu erwarten ist, einigt das “Uns”. Das zeigen die aktuelle Klimawndeldebatte und die Auswirkungen des Klimawandels.

    – Knoll, Alfons (2006) – Das Vaterunser als Gebet der Versöhnung; http://www.uni-regensburg.de/theologie/fundamentaltheologie/medien/materialien/knollgebet.pdf

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