Begrenzt offen?

Im Augenblick ist “Öffnet die Internierungslager!” (z.B. für Uiguren) weniger prominent, als der Ruf nach Aufhebung der Beschränkungen im wirtschaftlichen und öffentlichen Leben. Die persönliche Bewegungsfreiheit wird auch in Krisenzeiten häufig als unantastbares Gut betrachtet. Politik und Polizei erscheinen als autoritäre Instanzen, wenn sie Betretungsverbote, Sperrstunden und Dokumentation von Infektionsverläufen anordnen. Andererseits besteht in der Bevölkerung auch die Bereitschaft, sich einschränken zu lassen.

In einer Sendung auf Radio Orange: “Notizen zum Hausbau” sprach der Wiener Architekt Volker Thurm mit Herbert Hrachovec über Richard Sennets Buch “Die offene Stadt. Eine Ethik des Bauens und Bewohnens “. Die Kritik Sennetts richtet sich gegen technizistische Flächenverwaltung und rigide Bauordnungen; soweit, so gut. Doch Volker Thurm hielt dagegen. Seine Einschätzung sollte man angesichts der fröhlichen Partygruppen, die man in Wiens Szenevierteln beobachten kann, aufmerksam hören.

Volker Thurm über Offenheit

Diese Gedanken sind von der plumpen Gegenüberstellung offen/geschlossen weit entfernt. Sie präferieren Offenheit, aber sie weisen darauf hin, dass sie kein absoluter Wert ist. Der Begriff “Ordnungshüter” hat ein schlechtes Image und “gesittetes Benehmen” sowieso. Doch die Covid-Situation macht deutlich, dass es im zivilen Zusammenleben auch etwas zu schützen gibt. Die forschen Jungs, die in der U-Bahn maskenlos ihre Freiheit demonstrieren sind agressiv. Volker Thurms Beschreibung der Bevölkerung, der “Kleinen, Alten, Großen, Schwachen, Starken, Eingebundenen, Isolierten” öffnet den Blick auf den Zusammenhang, dem autonome Individuen angehören. Vorsichtig, ohne die Absicht, die Selbstverwirklichung zu stören.

2 thoughts on “Begrenzt offen?

  1. Ich trage zwei Beobachtugen und eine Referenz auf Badiou/Paulus bei:

    1. In privaten Unternehmen wird die Anpassung an bestimmtes Verhalten über eine Kombination aus folgenden Ordnungs-Maßnahmen versucht:
    – Standards
    – Schulungen
    – Hierarchien

    Üblicherweise ist keine der drei Maßnahmen ausreichend für die Akzeptanz einer Regel unter den Mitarbeiterinnen (m/w). In gelungenen Fällen stellt sich eine Dynamik ein, in der man sich Standards, Schulungen, und Hierarchien zu Eigen macht, d.h. in konkrete Situationen anzuwenden versucht und die Herausforderungen aufbringt, warum die Regel in diesem Fall funktioniert / nicht funktioniert. Das ist ein “Anti” – das zumindest die Regel zum Maßstab macht, während manche sie “nicht einmal ignorieren”.


    2. In meinem Bau gibt es eine alte Frau, die veranlasst hat, dass im Innenhof die Parkbank entfernt wird, weil die Menschen dazu tendieren, sich dort hinzusetzen, und dann die Regelungen (z.B. die der Nachtruhe) nicht einhalten. Auch ohne Parkbank verscheucht die Dame Passanten, die sich in der Mittagspause auf andere Weisen im Hof setzen wollen. Versteckt hinter einem verwachsenen Balkon, und mit drohender Stimme: “in Zeiten von Corona, darf man hier nicht sitzen! Wenn Sie nicht sofort gehen, rufe ich die Polizei”. Man sieht: Es gibt einen Grund, warum “Ordnungshüter”, vor allem die selbst ernannten, unbeliebt sind: Ein offener Hof kann durch eine einzige Person erstarren. (Manchmal aus guten Gründen.)

    Den Aufruf zur Ordnung steht ein Aufruf zur Nachsicht der Unordnung gegenüber: Jene, die die gemeinsamen Regeln überschreiten, sind aufgerufen, es nicht zu übertreiben. Diejenigen, die sehen, dass eine Regel überschritten wurde, können es manchmal einfach gut sein lassen. Zusammenleben funktioniert nur, wenn man in dieser Dynamik auf gleich kommen kann. Hier handelt es sich nicht um eine Übereinstimmung der Ordnung, sondern um ein Maß, wie viel Unordnung, aber auch wie viel Ordnung erträglich ist im täglichen Leben. Sitten etablieren Verhaltensnormen. Das oben genannte Maß fällt klassisch gesprochen unter die Urteilskraft.

    3. Ich bin versucht, hier einen Gedanken von der letzten Lektüre von Alain Badiou’s Paulus-Buch einzubringen: Ist es ausreichend, dass eine Gemeinschaft Sitten hat, bzw. eine übereinstimmende Ordnung?

    Die Idee ist: Es gibt Zugehörigkeiten in der Menschheitsgeschichte, die sind weder abhängig von der Akzeptanz _einer_ bestehenden Ordnung, noch beruhen sie auf der Zugehörigkeit einer Gruppe durch Merkmale der Individuen. Sie basieren auf einem Ereignis. Die Herausforderung besteht darin zu zeigen, dass dieses Ereignis in mehreren Ordnungen, in der man sich aufhält, zugänglich ist.

    Missionare sind noch unbeliebter als Ordnungshüter. Ihre Herausforderung ist die Akzeptanz der partikularen Sitten, die sich an einem Ort gebildet haben, und zu zeigen, dass das, was die Missionare bewegt (die Treue zu einem Ereignis), von den bestehenden Sitten zugänglich ist.

    Sitten sind nicht nur notwendig, sie sind sogar hinreichend für jene Bewegungen. Dies ist kein Begründungszusammenhang. Auch andere Sitten können hinreichend sein.

    Die Orientierung nach Sitten führt inhärent zum Wunsch nach ihrer Überschreitung. Das was nicht erlaubt ist, hat eine Anziehungskraft. Diese Dynamik kann man verhindert, wenn man nicht von einer Suche ausgeht, sondern von einer Annahme. Eine Annahme ist kein Gebot/Verbot. Von dieser Position aus kann man das Bestehende in Beziehung/Nicht-Beziehung zu Sitten und Orten, die einen begegnen, beurteilen.

    Die Kenntnis und Toleranz der Sitten _und_ der Abstand zu den Sitten durch ein subjektives Engagement sind wichtig, um im Leben zu bleiben. “Ordnung ist das halbe Leben. Ich lebe in der anderen Hälfte.”

    1. Das “Ereignis” steht quer zur Gebräuchlichkeit der “Sitten”. Paulus verkündet die Ankunft des jüdischen Messias der ganzen Welt. Zweitens ist den Sitten der Wunsch nach Überschreitung inhärent. Diese Transzendenz geht von ihnen selbst aus. Wie passt das zusammen? Im “Ereignis” verblasst der Rest der Welt, der nötig ist, um überschritten zu werden. Also was jetzt? Das Unerhörte oder das die Grenzüberschreitung, die im Bestehenden angelegt ist? Eltern, Frau und Kinder verlassen, oder mit ihnen einen ökologisch kompromisslosen Bauernhof betreiben?

      Suchen oder eine Wette abschließen. Was für eine Alternative! Als ob das Risiko der Wette nicht einigermaßen vernünftig begründet sein müsste/sollte. Es ist ein verhängnisvoller Fehlschluss zu meinen, die Dringlichkeit der Überschreitung lokaler Sitten sei so groß, dass man dazu etwas von allen Menschen Unerhörtes braucht.

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