Agamben: Ausnahmezustand prinzipiell

Giorgio Agamben schreibt in seinem Blog am 15. Juli 2020 über Notstand und Ausnahmezustand. Er bezieht sich auf den Artikel eines ungenannten Juristen “einer regierungstreuen Zeitung”, der in der Diskussion über die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zwischen Notstand und Ausnahmezustand unterscheidet. Der eine wird ausgerufen, um eine aktuellen Gefahr abzuwehren, und zielt darauf ab, die vorangegangene Normalität wiederherzustellen. Der andere bedient sich der Gefahr, um die Verhältnisse zugunsten oftmals demokratiefeindlicher Akteure umzugestalten.

Die Unterscheidung ist allem Anschein nach politischer und soziologischer Natur und bezieht sich auf eine persönliche Beurteilung des Zustands des betreffenden Systems, seiner Stabilität oder seines Zerfalls und der Absichten derjenigen, die die Befugnis haben, eine Aufhebung der Rechtsordnung anzuordnen, die aus rechtlicher Sicht im Wesentlichen identisch ist, da sie in beiden Fällen durch die bloße Aussetzung der Verfassungsgarantien geregelt wird. Was auch immer sein Zweck sein mag, von dem niemand behaupten kann, dass er mit Sicherheit beurteilt werden kann, es gibt nur einen Ausnahmezustand, und wenn er einmal erklärt ist, gibt es keine Instanz, die die Macht hat, die Realität oder den Ernst der Bedingungen zu überprüfen, die ihn bestimmt haben.

Die Ausgangsposition gibt zwei Faktoren vor. Erstens eine operative Rechtsordnung, die bestimmt, welche (Vertreter von) Instanzen in Sonderfällen Bürgerrechte suspendieren können. Und zweitens die entsprechende Entscheidung, die jeweils ad hoc zu treffen ist. Eine staatsrechtliche Regelung lässt, das ist bedenklich, die Überschreitung staatsrechtlicher Garantien zu. Agamben verweist zu Recht auf die Abhängigkeit der jeweiligen Entscheidung von persönlichen Einschätzungen (“un giudizio di valutazione personale sullo stato di fatto del sistema in questione”). 

Doch im nächsten Schritt klammert Agamben seine Einschätzungen gleich wieder ein. Juridisch betrachtet handle es sich bei der Ausrufung des Not- oder Ausnahmezustands um dieselbe Befugnis (“sostanzialmente identica”). Die abstrakte Operation ist tatsächlich in beiden Fällen gleich. Sie besteht “im Wesentlichen” im Absehen von bestehenden gesetzlichen Vorgaben. Im Rechtssystem Ausnahmen vom Rechtssystem vorzusehen ist anstößig, an der Kippe zwischen Krisenbewältigung und Willkür.

Prinzipiell gesehen sind also Ausgangssperren nach einem Atomunfall, Abschaltungen der Mobilkommunikation während eines terroristischen Anschlags, Geschäftsschließungen anlässlich einer Pandemie und der Staatsstreich in Myanmar gleich problematisch. Wie hilfreich ist eine solche Gleichstellung? Kann man Gesetze gesellschaftspolitisch ohne die jeweiligen Umstände und Entscheidungsträger sinnvoll denken?  

Für Agamben sind die Umstände unerheblich. Sein Ausnahmezustand ist nur einer (lo stato di eccezione è uno solo). Die Gegenüberstellung im Titel seines Beitrags täuscht. Instanzen zur Prüfung der Legitimität von Gesetzwidrigkeiten, wie in der Regelung von Notfällen üblich, fallen nicht ins Gewicht. Im ersten Schritt applaniert Agamben den Unterschied zwischen Notstand und Ausnahmezustand, im zweiten verabsolutiert er den Typus para-legaler Machtergreifung zum wesentlichen Merkmal aller Sondermaßnahmen zur Bewältigung manifester, oder auch nur inszenierter, gesellschaftlicher Verwerfungen.

 1962 drohte in Hamburg eine verheerende Flutkatastrophe. Zur Verhinderung trug der Innensenator und spätere deutsche Bundeskanzler Helmuth Schmidt bei. Er beorderte Hubschrauber der Bundeswehr und der Royal  Air Force an den Unglücksort, ein klarer Verstoß gegen das deutsche Verfassungsrecht. Man kann daraus eine Prinzipienfrage machen, dann gleicht er einem Putschisten. Oder man räumt eine Unterscheidung zwischen Notstand und Ausnahmezustand ein. (vgl. https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-32655070.html)

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