“Im Anfang”

Ecclesia und Synagoga beim Gekreuzigten
Ecclesia und Synagoga

Der Beginn des Johannesevangeliums (der heute, 03.01.2021, im römisch-katholischen Ritus gelesen wird) verrät den Beginn des Buchs Genesis der hebräischen Bibel, im dreifachen Sinn von (1) eine Gruppe im Stich lassen, (2) ein Geheimnis verraten, und (3) zur Verwendung an jemand anderen übergeben (paradidomi):

“Im Anfang (bereschit)
schuf Gott
Himmel und Erde”

(Gen 1,1)

“Im Anfang (en arche)
war das Wort (ho logos)”

(Joh 1,1)

Der am 23. November 2020 verstorbene Religionsphilosoph Klaus Heinrich schreibt im Aufsatz “Wie eine Religion der anderen die Wahrheit wegnimmt” von einer Konkurrenz-Situation zwischen Schöpfer und Schöpfungswort, die vom Johannesevangelium hergestellt wird (Heinrich, S.16). Außerdem würde das Johannesevangelium nahelegen, dass das Mosaische Gesetz ohne Wahrheit und gnadenlos wäre (Heinrich, S.17):

“Denn das Gesetz ist durch Mose gegeben (edothe)
die Gnade und Wahrheit (he charis kai he aletheia) ist durch Jesum Christum geworden (egeneto).”

(Joh 1,17)

Klaus Heinrich schreibt von einem Unbehagen, das sich einstellt, wenn man das Johannesevangelium liest. Mir scheint, das kann man bei der Lektüre von Johannes 8 selbst nachvollziehen: Jesus behauptet, er wäre “vor” Abraham, und dass diejenigen, die an seine Rede glaubten, die Wahrheit erkennen werden, und dass die Wahrheit sie “frei machen” werde.

Diejenigen, die seiner Rede nicht glaubten, hätten den Teufel zum Vater. Die jüdischen Schriftgelehrten, zu denen er spricht, werfen ihm im Gegenzug vor, vom Teufel zu sein. Die Szene endet mit Steinwürfen auf Jesus, der sich verstecken musste. Dazu muss man noch wissen: Johannes 8 begann damit, dass eine Frau nach den Gesetzen Moses gesteinigt hätte werden sollen (weil sie beim Ehebruch erwischt wurde), und Jesus diese “Gesetzestreue” bekannterweise mit: “Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.” kommentierte und damit verhinderte.

Von diesem Zusammenhang spricht Klaus Heinrich nicht. Er fokusiert sich vor allem darauf, dass “‘die Wahrheit wird euch freimachen’ wie ein erster Aufruf zum Pogrom erscheint” (S.17), und dass es dem Verfasser des Johannesevangeliums u.a. darum gegangen ist, die Juden als von Gott abgefallene und als Mörder des Schöpfungswortes darzustellen.

Die Analyse von Heinrich verkürzt: Frühe Christen haben die Angst des eigenen Abfalls von der jüdischen Tradition verarbeitet, indem sie Christus vor Abraham stellten. Dadurch ergibt sich, dass die jüdische Religion ein Abfall vom Christentum wäre, welcher Gnade und Wahrheit fehlt.

(Spaltung ist der hier passende Begriff, den Heinrich in einem Vortrag “Vom Nutzen und Nachteil der Spaltung”, der im Buch “Anfangen mit Freud” veröffentlicht wurde, genauer analysierte, mit Bezug auf Religion, dem Platonischen Geschlechtermythos, und Überlegungen von Freud. Diese Richtung heben wir uns für ein anderes Mal auf.)

Es handelt sich um eine Verengung des Bundes mit Gott auf eine Person, Jesus. Denn: Der Glaube an das Kommen des Messias in der jüdischen Religion ist nicht Messias-Glaube. Das ist ein erster Hinweis darauf, dass es eine Verkürzung und Projektion ist, zu sagen, dass Jesus die Erfüllung der Schrift ist. Was man sagen kann ist, dass es Christentum nicht ohne die Hebräische Bibel, und die Etablierung des Treue-Begriffs (emeth) gäbe.

Ist damit eine unversöhnbare Spaltung eröffnet, eine Erzählung (Jesus ist vor Abraham und Moses), die Juden nicht mitmachen können und die Christen eine Überlegenheitsgewissheit gibt?

In einer Zeitschrift des Bistum Meinz sind 2019 Beiträge erschienen, die das Verhältnis von Judentum und Christentum bedenken. Überlegungen von Josef Ratzinger (ehemals Benedikt XVI), der sich 2018 zum Thema zu Wort meldete, werden aufgegriffen. Demgemäß ist eine Missionierung von Juden nicht nötig, denn nur diejenigen, die Gott noch nicht kennen, sollen auf ihn aufmerksam werden.

Außerdem kann man die feindseligen Worte des Johannesevangeliums durch die Römerbriefe des Paulus relativieren: „Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt“ (Röm 11,29), was gemäß der “Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum” (die 1974 eingerichtet wurde), bedeutet, dass der Bund Gottes mit Israel von Gott her nie aufgehoben wurde, und dass also “Israel insgesamt gerettet wird” (Zeitschrift Bistum Meinz, 2/2019, S.31). Und doch kann es aus christlicher Sicht nur einen Heilsweg geben, und der wird durch Jesus Christus vermittelt.

Man wird den Eindruck nicht los, dass das Christentum sich als überlegene Religion sieht, indem die Kirche sowohl Vergangenheit als auch Gegenwart und Zukunft in sich vereint, während die jüdische Religion auf einer “niedrigeren Stufe” verortet wird.

(Übrigens wird im Christentum auch Vater und Sohn vereint, was zu einer einzigartigen Immunisierung gegenüber personalen und sozialen Konflikten führt, die außerdem die Geschlechterspannung aufhebt (Vgl. Heinrich, S.30) – ob es sich tatsächlich um Vereinung handelt ist fraglich. Alternative Interpretation: Zusammenarbeit von Vater und Sohn).

Die Gewissheit der Überlegenheit möchte der Theologe Klaus von Stoch mit einem Gedanken unterbrechen. Er bringt auf, dass beide, sowohl Judentum als auch Christentum beim Jüngsten Gericht eine Überraschung erleben könnten. Wie lässt sich denn der Auferstandene Jesus Christus identifizieren? Die Zukunft ist für Christen nur auf generische Weise gewiss, doch die ‘finale’ Wahrheit des Glaubens an Jesus Christus, der als Richter erscheint, wird erst am Ende der Zeit klar. “Ich werde sein, der ich sein werde” beschreibt die Nicht-Festlegbarkeit, die in der Überlieferung mit Gnade und Treue kombiniert wird. Eine generische Vorzeichnung der Zukunft. Wer sagt, dass die Aufhebung der jüdischen in der christlichen Lehre passieren muss? Es ist durchaus möglich, dass die christlichen Hoffnungen in jüdischen (oder islamischen?) Vorstellungen aufgehoben werden.

Das Johannesevangelium alleine, folgt man Klaus Heinrich, kann diesen Versöhnungsschritt nicht unternehmen. Eine fundamentalistische Sekte raubt dem Judentum die Wahrheit, injiziert Jesus in allerlei jüdischen Überlieferungen, und wirft den Juden vor, den Abfall von der Wahrheit nicht zuzugeben, d.h. zu lügen:

“Wir befinden uns im Medium einer latenten Geschichtszerstörung. Das Spiel mit Prä- und Postfiguration signalisiert einen fortschreitenden Realitätsverlust… eine Vergangenheit, die nicht stattgefunden hat, begegnet einer Zukunft, die schon geschehen ist.” ( Heinrich, S.25-29)

Die Tatsache, so Heinrich, dass es im Christentum Momente des Personenkults und sektiererischem Fundamentalismus gibt/gab, wird nicht dadurch verarbeitet und wiedergutgemacht, dass man sich z.B. auf den Römerbrief beruft und Johannes mit seinen realen historischen Effekten unthematisiert lässt. Und dann geht Heinrich dazu über, Elemente im Johannesevangelium selbst zu benennen, die einen Ausweg bieten.

Dass Treue bei einer Auseinandersetzung mit Verrat verstanden werden kann, ist für weitere Überlegungen festzuhalten. Die eingangs erwähnte Mehrdeutigkeit des Worts Verrat, die nützliche Rolle des Verräters Judas für die “Erfüllung der Schrift”, und die Überlegungen eines produktiven Verrats, wie in Herbert Hrachovec im letzten Beitrag beim Schweige-Gebot Wittgensteins beschreibt, nehmen wir ebenfalls mit in die Überlegungen für 2021, gemeinsam mit dem Risiko einer Überheblichkeit des Verräters, der sich gegenüber dem, wen oder was er verrät, selbst als Sieger darstellt – so geschehen beim Paar “Ecclesia und Synagoga” im Halbreliefs der Stiftskirche St. Peter in Bad Wimpfen: Zur Linken von Jesus die hinsinkende Synagoga mit Augenbinde, gebrochener Lanze, zerrissener Fahne und zu Boden fallender Krone, der linken Hand entgleiten die Gesetzestafeln. Zur Rechten von Jesus die “gekrönte Ecclesia, in der rechten Hand einen Kelch, in der linken den Kreuzstab mit wehender Osterfahne” (Bistum Mainz, RU heute, S.32). Bescheidenheit kommt von Bescheid wissen.

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