Agamben: Ausnahmen, Ausrasten

Agamben lehnt es, wie im vorigen Beitrag gezeigt, ab, im Umgang mit der Pandemie zwischen Notstand und Ausnahmezustand zu unterscheiden. In Homo sacer hat er differenzierter darüber geschrieben, was eine Ausnahme charakterisiert. Es handelt sich auf den ersten Blick darum, ein Vorkommnis einer Regel zu entziehen. Der Lebensmittelhandel ist z.B. vom Lockdown ausgenommen. Diese Sonderregelung hat jedoch, näher betrachtet, einen zusätzlichen Aspekt. Sie ist Teil der Gesetzgebung und sichert sie gegen unstatthafte Verallgemeinerung. Ihr Kern wird gefestigt, indem sie Ausnahmen gewährt. Die Gültigkeit der Ordnung wird aufgehoben …

… indem zugelassen wird, dass sich die Ordnung von der Ausnahme zurückzieht, sie verlässt.[ref]Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt am Main 2002, S.28[/ref]

Niemand kann sich, im Beispiel, auf Hunger ausreden, wenn er das Ausgangsverbot übertritt. Durch Null darf, ein anderes Beispiel, nicht dividiert werden, damit der systematische Zusammenhang zwischen Division und Multiplikation nicht verlorengeht. Ein wichtiger Punkt, blumig ausgedrückt:

Es ist nicht die Ausnahme, die sich der Regel entzieht, es ist die Regel, die, indem sie sich aufhebt, der Ausnahme stattgibt (a.a.O.)

Die Illustrationen ließen sich beliebig vermehren. Derartige Ausnahmen gibt es im Straßenverkehr, in der Kleiderordnung, beim Finanzamt. Wie kommt es dazu, dass Agamben in der Stellungnahme zur Pandemiegesetzgebung alle diese Feinheiten vergisst?

Er prägt im Anschluss an die dargestellten Überlegungen den Begriff einer “souveränen Ausnahme”. Sie dient nicht dazu, eine Regel zu neutralisieren und/oder zu stärken, sondern bildet die Verbindung zu Carl Schmitts Souverän im Ausnahmezustand. Der kümmert sich, nach Agamben, nicht um das Zulässige und Unzulässige,

sondern (um) die ursprüngliche Einbeziehung des Lebewesens in die Sphäre des Rechts oder, mit Schmitts Worten, in die “normale Gestaltung der Lebensverhältnisse”, deren das Gesetz bedarf. (S.36)

Es geht ihm

um die Schaffung und Bestimmung des Raumes selbst, in dem die juridisch-politische Ordnung überhaupt gelten kann.” (S.29)

Einfach gefasst bestimmt er den Unterschied zwischen Lebewesen allgemein und dem Leben von Menschen unter (Rechts-)Ordnungen. Die Ausnahmen, die er verfügt, handeln vom Leben und Tod der betroffenen Lebewesen, je nachdem, ob ihnen ein Platz im Rahmen des Gesetzes verwehrt wird. Das bedeutet eine krasse Zuspitzung des Verständnisses von Ausnahmen.

Genau genommen ist es gar kein Umgang mit Ausnahmen, es ist eine Grenzziehung zwischen Natur und dem menschlichen Sonderweg. Agamben kümmert sich nicht um Lebensmittelhandel oder Apotheken, sondern darum, dass Menschen Anteil am Menschsein verweigert werden kann. Ihre Rechtsordnungen beruhen auf solchen angemaßten Auswahlverfahren. Es geht um alles oder nichts in der Gestaltung des rechtmäßigen Zusammenlebens.

Diese Sichtweise übersteigt den Raster der eingespielten gesellschaftlichen Routine. Philosophie rastet aus und macht aus Sonderfällen Drehpunkte für Grundsatzfragen. Sie rastet auch in einem anderen Sinn aus, den Wittgenstein bemerkt hat. Sie entsteht, wenn die Sprache feiert, jenseits der Mühen des Alltags. Ihr Ruhekissen sind ihre Prinzipien.

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