Agamben, Adam & Eva

Ein unübertrefflicher Souverän verfügt eine weltberühmte Ausnahme. An Ausnahmen hängt, wie G. Agamben ausführt, das vorausgesetzte Regelsystem insgesamt..

Dann gebot Gott, der Herr, dem Menschen: Von allen Bäumen des Gartens darfst du essen, doch vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen; denn sobald du davon isst, wirst du sterben. (Gen 2, 16f)

Gott erweist sich als Herr der Welt, indem er einen Sonderfall festlegt, dessen Missachtung alle geltenden Erlaubnisse tilgt. Adam und Eva werden vertrieben, weil sie dieses Ausnahme-Recht des Souveräns übertreten.

(Adam) antwortete: Ich habe dich im Garten kommen hören; da geriet ich in Furcht, weil ich nackt bin, und versteckte mich. (Gen. 3, 10)

Jenseits des Paradieses bleibt das nackte Leben. Adam und Eva gibt es weiterhin als Geschöpfe Gottes, doch ohne Anteil mehr an ihm. Ihre Existenz ist ein Restzustand: abgetrennt vom Souverän, unter dessen Gebot sie jedoch noch immer stehen.

Agambens Auffassung der “abendländischen Politik” [ref]Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt am Main 2002, S.17[/ref] gleicht der biblischen Erzählung in wesentlichen Punkten, allerdings verschieben sich die Rollen. Im “Prozess der Disziplinierung durch … die Staatsmacht” (a.a.O. S.19) unterwirft eine destruktive Gewalt, die bloß das nominelle Leben gelten lässt, Menschen, die vordem gewachsenen Gemeinschaftsordnungen folgten. “die Ausname (wird) überall zur Regel” (a.a.O.), die Einbeziehung “des natürlichen Lebens in die Mechanismen und Kalküle der Staatsmacht” (a.a.O. S.12) beseitigt ehemalige Freiräume. “Unsere Politik kennt heute keinen anderen Wert … als das Leben” (a.a.O. S.20). Vom natürlichen Leben als einem Gut an sich (Aristoteles, a.a.O. S.11) über das Einschreiten “der neuen Biomacht” (a.a.O. S.13) als Souverän, zur “Dringlichkeit der Katastrophe” (a.a.O. S.21)

Drehpunkt der beschworenen Katastrophe ist eine bedenkenswerte These Agambens: jede Ausnahme sei zugleich Ausschluss und Einschluss. Das Trauma des Geächteten besteht darin, dass sein Verhältnis zum staatlichen Gesetz seine Verbannung ist.. Nach Agamben verwehrt die Biopolitik den Betroffenen alle Lebensmöglichkeiten, abgesehen vom Überleben. Die Signatur der Epoche ist nach ihm schon 1995 das “Lager als absoluter Ausnahmeraum” (a.a.O. S.30) Kein Wunder, dass er in den Notverordnungen zur Eindämmung der Covid-Pandemie ausschließlich Kontrollzwang und Freiheitsverlust sieht. In den Beiträgen ab Februar 2020 stößt er sich an vielen Details dieses Regimes. Der Ton ist schrill, die Beobachtungen bisweilen treffend. Geleitet werden sie vom doppelten Horror “der Biopolitik des modernen Totalitarismus” und der “Massengesellschaft des Konsums und des Hedonismus” (a.a.O. S.21). Diesen ausgeprägten Feindbildern seien hier zwei weniger plakative Beobachtungen entgegengestellt..

Die eine Anmerkung betrifft Agambens Kritik am Diktat des blanken Lebens als höchstem Wert. Seine Fixierung auf “Das Lager als nómos der Moderne” (a.a.O. S.175) überdeckt die Frage, wonach sich denn das wünschenswerte Leben orientieren soll. Agamben diagnostiziert einen umfassenden Glaubensverlust.

Wir warten weder auf einen neuen Gott noch auf einen neuen Menschen – vielmehr suchen wir hier und jetzt, in den Trümmern, die uns umgeben, nach einer bescheidenen, einfacheren Lebensform, die keine Fata Morgana ist, weil wir uns an sie erinnern und sie erfahren, auch wenn feindliche Mächte in uns und außerhalb von uns sie jedes Mal in ihrer Vergesslichkeit ablehnen. [ref] https://sunzibingfa.noblogs.org/post/2020/11/30/ueber-die-kommende-zeit/[/ref]

Alles, was gut und teuer war, wird in den Strudel des Bio-Totalitarismus gezogen. Aber inwiefern gleichen einander die Intensivstationen unserer Spitäler und die Konzentrationslager des vergangenen und gegenwärtigen Faschismus? Es trifft zu, dass in den Demokratien der nördlichen Hemisphäre eine fortgeschrittene normative Pluralisierung tendentiell nur mehr die Einigung auf “wir sind alle Menschen” übrig lässt. Ist das gering zu schätzen, bloß weil es einen kleinsten gemeinsamen Nenner darstellt? Jedes Leben bestmöglich zu schützen ist das Ende einer Entwicklung, die ihre dunklen Seiten hat. Und ein Beginn, wenn man den Nihilismus nicht zum Maß aller Dinge macht..

Die zweite Anmerkung betrifft Agambens Begriff der Ausnahme als Einschluss und Ausschluss. Ein Gremium könnte in seiner Geschäftsordnung festlegen, dass Bereichsverantwortliche an Abstimmungen über ihr Team nicht teilnehmen dürfen. Oder, ein anderes Beispiel, die Chefin eines Betriebs darf nicht Vorgesetzte einer Person sein, mit welcher sie verheiratet ist.. Solche Überlegungen sind nicht ungewöhnlich. Ein allgemeines Fahrverbot gilt nicht für Rettungsfahrzeuge. Aus diesem Umstand lassen sich dialektische Spielereien basteln. Als Gefährt ist das Fahrzeug vom Verbot betroffen, als Rettung aber nicht. Angesichts eines Notfalls verschwimmen Recht und Übertretung in einem unentschiedenen Zwischenzustand.

Agamben hat diese Doppelfunktion von Ausnahmen hervorgehoben. Das Drama des “nackten Lebens” ist davon nur eine apokalyptische Variante. Dass Ausnahmen — und ausnahmsweise Sonderregelungen — oft dem gedeihlichen Zusammenleben dienen, ist in seinen Dunkelzeichnungen nicht vorgesehen.

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