Es geht um eine zentrale methodologische Bemerkung Wittgensteins und ein nebensächliches Komma. Um die vielschichtige Arbeit an seinem Nachlass und eine amüsante Unschärfe, die sich dabei ergeben hat. Um hohe kulturelle Bedeutsamkeit und eine Frage der Beistrichregeln. Zusammengefasst um das ungleiche Verhältnis zwischen einer Edition als UNESCO Weltkulturerbe und einer anregenden textkritischen Kleinigkeit.
Die Überlegung, die Wittgenstein 1929 in einen Manuskriptband (Ms 106, S. 257) einträgt, distanziert sich von der kecken Selbstsicherheit, die im Tractatus Logico-Philosophicus mit “der” Philosophie kurzen Prozess machte. Er hat bemerkt, dass seine Analysen nur greifen, wenn sie dem Analysierten angemessen sind, also dem menschlichen Sprachgebrauch. Der aber ist stellenweise undurchsichtig; Versuche, ihn philosophisch aufzuklären, sind es ebenso. Dabei sollte die Philosophie ganz einfach sein. Wittgenstein findet eine frappante Auflösung dieses Dilemmas. Logische Transparenz bleibt das Ziel, doch sie muss beschwerliche Umwege durch das verwirrende Dickicht “unseres verknoteten Verstandes” auf sich nehmen. Das ist schon früh ein Grundgedanke, der 1948 zur Einsicht führt: “Beim Philosophieren muß man ins alte Chaos hinabsteigen, & sich dort wohlfühlen.” (Ms-136, S. 51)
Die Passage ist prominent in ein Typoskript aufgenommen worden, das Wittgenstein 1930 aus seinen Manuskriptbänden zusammengestellt hat (Ts 209, S.1). Ihr letzter Satz sieht so aus:
Das “d” von “die”, mit dem der Nebensatz beginnt, hat sich beim Tippen ohne Zwischenraum an das “sondern” angehängt. Dann wurde es zweifach wieder abgetrennt: mit Schrägstrich und mit einem Komma. Das Bild des Faksimiles zu Beginn dieses Beitrags zeigt deutlich, dass Wittgenstein im Manuskript weder den syntaktisch erforderlichen, noch den zweiten Beistrich gesetzt hat. Dieser Sachverhalt ist eindeutig. Nicht ganz eindeutig ist, wie mit der vertippten Stelle umzugehen ist. Wissenschaftliche Werkausgaben bieten korrekte Transkriptionen, im Fall Wittgensteins in “diplomatischer” und “normalisierter” Form. Einerseits die Übertragung der Quelle inklusive ihrer eventuelle Fehler und Überarbeitungen, andererseits eine Gebrauchsfassung des rekonstruierten Lesetextes. So sieht die detaillierte Transkription aus; sogar das doppelt getippt “n” in “sondern” ist erfasst:
Soweit, so gut. Wie sollte nun aber die normalisierte Fassung aussehen? Intuitiv würden vermutlich viele sagen: “… ist nicht die ihrer Materie, sondern die unseres verknoteten Verstandes”. So steht es jedenfalls im Duden. Die Version in der Bergen Electronic Edition sieht aber anders aus:
Das Komma wäre nach Duden gerechtfertigt, wenn nach dem “sondern” ein Nebensatz folgt, also etwa: “Die Komplexität der Philosophie ist nicht die ihrer Materie, sondern, dass sie auf einen verknoteten Verstand angewandt wird.” Nach heutigem Verständnis gehören dagegen “sondern die unseres verknoteten Verstands” zusammen. Soll man annehmen, das zweite Komma sei unwillkürlich hereingerutscht? Dem ist nicht so, wie der anschließende Beitrag zeigt.