Es geht um eine zentrale methodologische Bemerkung Wittgensteins und ein nebensächliches Komma. Um die vielschichtige Arbeit an seinem Nachlass und eine amüsante Unschärfe, die sich dabei ergeben hat. Um hohe kulturelle Bedeutsamkeit und eine Frage der Beistrichregeln. Zusammengefasst um das ungleiche Verhältnis zwischen einer Edition als UNESCO Weltkulturerbe und einer anregenden textkritischen Kleinigkeit.
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Nicht zu schweigen ist Verrat
Ludwig Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus legt genau fest, wie sinnvolle Sätze auszusehen haben. Am Ende führt das zum bekannten deadlock: Man kann Sätze über Sätze nicht gleichzeitig verbieten und das Verbot in Sätze fassen. Viel ist über diese Dialektik geschrieben worden. Eine Bemerkung Pierre Hadots in einer Publikation aus 1959 eröffnet eine ungewohnte, überraschende Perspektive. Sie passt gut zu den Gedanken der vorigen Einträge in diesem Blog. Wittgenstein kann sich im Prinzip keine Scheinaussagen über das Verhältnis von Sätzen zur Welt erlauben. Doch er bricht seine eigenen Vorschriften. Er übertritt das Gebot, auf dem sein Buch aufgebaut ist.
Read moreUnendliche Mengen. Teil 2: Limesordinalzahlen. Oder: Frauen?
“It is a fact, that there is no limit point. If there is no limit point, there is something infinite, virtually. But we will never be in the point without limit. If we continue the repetition, we are always in the finite, we don’t encounter the limit of the absence of limit. The absence of limit is only the possibility to do the succession once more. But this ‘once more’ is only the ‘without limit’ and not the positive presentation of something infinite.” Alain Badiou – Infinity and Set Theory – Repetition and Succession (2011)
Wir haben in der letzten Episode anhand von Javascript gesehen, dass das Zählen zwar prinzipiell weitergehen kann, jedoch praktisch, um nicht in der Endlosschleife hängen zu bleiben, ein Ende finden muss – bis auf Weiteres.
Die Regel, die das Weiterzählen vorschreibt, ist kein Gesetz das uns einschränkt, sondern ein Hilfsmittel, mit dem wir beliebig viele gleichartige Zahlen erzeugen können. Was heißt gleichartig? Der Modus Operandi der Erzeugung dieser Zahlen bleibt stets gleich: +1, +1, +1, … Damit reihen sich die Zahlen in eine Ordnung ein und sind gleichzeitig Schöpfungen, dessen Eigenschaften und Ähnlichkeiten man untersuchen kann. x ist eine gerade Zahl, x ist eine Primzahl, usw.
Die Mengentheorie nimmt die Regel des Weiterzählens zur Kenntnis, setzt sie aber an einer Stelle aus. Man kann fragen: Gibt es eine Zahl, die dieser Regel entkommt, d.h. eine Zahl, die sich nicht durch die Anwendung der Regel begründet, die von 0 beginnend einen Nachfolger produziert? Was wenn wir uns entscheiden, die Existenz dieser Zahl anzunehmen? Dann können wir -woanders- weiterzählen. Was ist passiert? Hilft uns das weiter?
Unendliche Mengen. Teil 1: Eine Übung mit JavaScript
Wir schreiben. Ein Spiel mit Zeichen, Manipulationen von Strings nach Regeln. Und dann, was damit anfangen? In der Anwendung, d.h. dem Einsatz der eingeübten Regeln in der vielfältigen Welt, gewinnen die Spielzüge ihren Wert.
Das Spiel mit Zeichen aber ist selbst ein Weltgeschehen. Und während es sich als Ordner der Welt betätigt, kommen Zweifel auf – über die Welt der Ordnung. Was tut es mit den unendlichen Mengen an Vorkommnissen? Immer kleinteiliger zerlegen. Auf verschiedenste Weisen zusammenfassen. Auf Eigenschaften schließen. Und wenn es selbst in den Fokus des Ordnens kommt, bricht es erst einmal zusammen.
Festschreiben und Verhandeln: Projektmanagement revisited
Vor sechs Jahren wurde hier ein Beitrag über Agiles Projektmanagement veröffentlicht. Er entstand während dem Besuch einer einschlägigen Vorlesung im Informatikstudium. Heute stellt sich das Thema neu dar. Weniger Schlagwort-orientiert. Man hat Zeit investiert, praktische Erfahrung gesammelt.
Mancherorts in den IT-Abteilungen belächelt man den “Agile”-Hype. Er wurde fast zum Schimpfwort. Bei “von oben” verordneten Prozessveränderungen ist das zu erwarten und nicht unmittelbar ein Argument gegen alternative Vorgehensweisen zur Erstellung von Artefakten wie Software.
Der Verdacht: Personen, die wenig bis keine Erfahrung im Projektmanagement hätten, fallen auf die Slogans von Coaches und Beraterinnen herein:
- Starre Regelwerke — laufendes Eingehen auf Änderungswünsche
- Fixe Rollenverteilung — Individuelle Entfaltung bei verschiedensten Aufgaben
- Reduktionismus — Holismus
Die Gegenüberstellung dieser Phrasen helfen zumeist wenig zur Beurteilung und Verbesserung des Projektalltags. Die Zuflucht zu agilem Vorgehen ist Teil eines Dilemmas, das bei einem an mehreren Orten stattfindenden Softwareprojekt sehr deutlich wird, in dem man exakt spezifizieren muss. Die Spezifikation wird in einem Medium verständlich gemacht, das Weiteres oder Anderes offen lässt.
beschreiben und erschweigen
Der Tractatus von Ludwig Wittgenstein scheint zunächst gekünstelt, eine durchorganisierte Ausstellung. Die nummerierten und geordneten Sätze können zur Meditation einladen, wie eine Serie von Gemälden eines Künstlers. Wenn man annimmt, dass es ums Ganze geht, verführen die pointierten Sätze zum Verharren und Abdriften: “4.1212 Was gezeigt werden kann, kann nicht gesagt werden.” Die folgenden drei Screenshots setzen sich mit diesem Satz auseinander, sowie der Frage wie weit sich die Disjunktion von Zeigen und Sagen halten lässt, ausgehend von (m)einer unabgeschlossenen Welt.
Das mitten-im-Sommer Philosophie Symposium?
Das jährliche internationale Wittgenstein Symposium in Kirchberg am Wechsel steht seit langem unter einer allgemeinen Vorgabe, die nicht mit Wittgenstein zu tun haben muss. Dem Philosophen ist eine Sektion gewidmet, die anderen ergeben sich aus dem Rahmenthema. Diese Entwicklung ist verständlich, denn es ist praktisch unmöglich, ein derart ambitioniertes, wohldotiertes Treffen im Jahresabstand ausschließlich auf den Namensgeber zu fokussieren.
In diesem Jahr geht es schwerpunktmäßig um Ethik und Gesellschaft, mit einer Reihe interessanter Referentinnen. In der Ankündigung der Sektionen haben die Verantwortlichen einen locker flockigen Stil gewählt:
The symposium will be held from August 5th through 11th, 2012, in Kirchberg am Wechsel, Austria. Contributions may address this year’s general topic: “Ethics – Society – Politics”, and/or all aspects of the philosophy, work and life of Ludwig Wittgenstein.
Sections:
1. Wittgenstein
2. Living – Healing – Dying
3. Justice – Society – Economy
4. Power – Ethics – Politics
5. Humanity – Nature – Technology
6. History – Concepts – Theories
7. Knowledge – Truth – Science
Man fragt sich schon, ob das die neue Form des flächendeckenden Universalitätsanspruchs der Disziplin ist. Sie präsentiert sich als Triaden vage assoziierter Substantiva. Interessant, was sich sonst in dieser Weise verbindet. Hier ein Ergebnis für das erste Trio.
Einladung zu Plotin
Die Reihe “Philosophische Brocken” auf Radio Orange (Wien) bringt am Mittwoch, dem 5.1.2010, ein Gespräch über den spätrömischen Philosophen ägyptischer Herkunft Plotin. H. Hrachovec spricht mit Christoph Horn von der Universität Bonn. Ch. Horn ist (unter anderem) Spezialist für Antike Philosophie und hat seine Dissertaion über Plotin verfasst. Hier der Link zur Sendung.
Gegen Ende der Sendung wird eine gewisse Nähe zwischen Plotin und dem frühen Wittgenstein erwähnt, die in der Fachwelt noch nicht wahrgenommen wurde.
freispielen
Im Rahmen des Symposiums “Mind and Matter” von Paraflows 10 habe ich gestern diesen Videoclip gezeigt:
[flv]http://phaidon.philo.at/qu/wp-content/uploads/2010/09/Tor.flv[/flv]
Die Gehirnforschung untersucht unter anderem jene neuronalen Vorgänge, die “dafür verantwortlich sind”, dass wir bestimmte Bewusstseinszustände besitzen. Daran schließen sich bekannte Fragen an: Wie verhält sich eine Konstellation im Gehirn zu einem Gefühl oder Gedanken? Es wird versucht, Bilder von der Erregung des Nervensystems mit sinnvollen Erfahrungen zusammenzuspannen.
Aber die soziale Welt besteht nicht aus vereinzelten Gehirnen, die allenfalls miteinander Beziehungen aufnehmen. Spielregeln sind über-individuelle Abstraktionen, denen sich Körper (unter anderem Gehirne) anpassen. Thomas Müllers Querpass ist genial, nicht weil eine Gruppe von Neuronen gefeuert hat, sondern weil er gut Fussball spielt.
Und ausserdem ist der Spielzug philosophisch. Er öffnet die “Abwehrmauer”. Er zeigt die Personenverteilung in einem anderen Licht. Eine neue Handlungsmöglichkeit wird geschaffen.
Ästhetik des Fensterputzens
Schon lange habe ich nichts so Gutes gelesen wie Michael Frieds Arbeit über den US-amerikanischen Fotographen Jeff Wall, seine Fotoinstallation, aufgenommen im Mies van der Rohe Pavillion in Barcelona, und ein Fragment Wittgensteins über Kunst “auf der Bühne” und nach der Entfernung des Theaterrahmens. Sie ist erschienen in Why Photography Matters as Art as Never Before.
EIne Version des Textes ist online: Michael Fried: Jeff Wall, Wittgenstein, and the Everyday
Morning Cleaning, Mies van der Rohe Foundation, Barcelona 1999
Transparency in lightbox 1807 x 3510 mm
Collection of the artist, on permanent loan to the Museum für Moderne Kunst, Frankfurt am Main
Cinematographic photograph
© The artist
Ein Videoclip bringt die ersten 9 Minuten des Vortrags, aufgenommen im MuMok 2007:
[youtube WxPABneNmrU super video]