Vor sechs Jahren wurde hier ein Beitrag über Agiles Projektmanagement veröffentlicht. Er entstand während dem Besuch einer einschlägigen Vorlesung im Informatikstudium. Heute stellt sich das Thema neu dar. Weniger Schlagwort-orientiert. Man hat Zeit investiert, praktische Erfahrung gesammelt.
Mancherorts in den IT-Abteilungen belächelt man den “Agile”-Hype. Er wurde fast zum Schimpfwort. Bei “von oben” verordneten Prozessveränderungen ist das zu erwarten und nicht unmittelbar ein Argument gegen alternative Vorgehensweisen zur Erstellung von Artefakten wie Software.
Der Verdacht: Personen, die wenig bis keine Erfahrung im Projektmanagement hätten, fallen auf die Slogans von Coaches und Beraterinnen herein:
- Starre Regelwerke — laufendes Eingehen auf Änderungswünsche
- Fixe Rollenverteilung — Individuelle Entfaltung bei verschiedensten Aufgaben
- Reduktionismus — Holismus
Die Gegenüberstellung dieser Phrasen helfen zumeist wenig zur Beurteilung und Verbesserung des Projektalltags. Die Zuflucht zu agilem Vorgehen ist Teil eines Dilemmas, das bei einem an mehreren Orten stattfindenden Softwareprojekt sehr deutlich wird, in dem man exakt spezifizieren muss. Die Spezifikation wird in einem Medium verständlich gemacht, das Weiteres oder Anderes offen lässt.
Wir schreiben fest. Fest, worauf? Ein Excel-Dokument dient als Anker dafür, wie es sein soll. Ein Stück vom Ist-Stand soll über den Soll-Stand entscheiden. Die schrittweise Aufzählung zerhackt das Gewimmel von Meinungen. Je feiner sie hackt, desto mehr nähert sie sich ihm an. Die Spezifikation hält sich nur noch mit Mühe auf Distanz der vielfältigen Varianten. Sie verspricht, den Überblick zu behalten. Ein ehrenhaftes Motiv, das von der Komplexität herausgefordert wird. Manche sehen in ihr die alleinige Autorität im Verlauf eines Projekts. Die Rede ist von der Anforderungsliste oder dem Lastenheft.
Dass es hilfreich ist, Ergebnisse über wünschenswerte Eigenschaften eines Artefakts zusammenzufassen, soll hier nicht bestritten werden. Es geht um die Verselbständigung der Wünsche im Hinblick auf die Tatsache, dass das Medium, mit dem wir etwas festzuschreiben beanspruchen, Sprache, mehrere Deutungen zulässt.
Der Auftrag, sich strikt, Wort für Wort, an das Geschriebene zu halten, geht regelmäßig schief und produziert vielfältige Interpretationen. Die Prioritäten und Zusammenhänge verändern sich, die Zeit ist knapp, das Gedächtnis kurz, die technischen Möglichkeiten beschränkt, oder allzu variantenreich.
Und plötzlich liegen neue Deutungen des Spezifizierten viel näher. Dabei kann man sich verzetteln. Man möchte die Bewegung der Gedanken stoppen und verfeinert die Spezifikation. Ein Labyrinth von Wörtern entsteht, ein Textkorpus, der vorgibt, auf jede Frage eine Antwort zu haben.
Hilft hier eine Analyse?
Die Analyse kennzeichnet die Löcher, die die Sprache unterminieren, und zerstört die Aussagen, die sie füllen wollen. Sie arbeitet mit dem, was sich zeigt, ohne gesagt werden zu können. (Michel de Certeau: Kunst des Handelns, Merve Verlag, Berlin 1988, S. 48)
“Wir können den Gebrauch unserer Wörter nicht übersehen” – weder ignorieren noch überblicken, schreibt L. Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen.
Der Versuch der möglichst genauen Spezifikation lässt sich nicht stoppen. Er ist ein Ideal, vor allem wenn Personen an mehreren Orten an einer Software arbeiten. Sagen wir, auf Werkvertragsbasis: A liefert Software X an B zum Fixpreis von Z. Der Mut zur Lücke kann für A und B negative Effekte haben. A gibt an, nicht für dieses Detail von X beauftragt worden zu sein, und B nimmt an, dass dieses Detail “eh klar” gewesen sein muss. Der Vertrag für ein Werk X impliziert also ein überwiegend abgeschlossenes Set an Anforderungen. Hier muss man verhandeln, nicht nur schreiben.
Nimmt man die Fixkosten weg (Dienstvertrag) hat man mehr Flexibilität beim Ausgestalten der Werkdetails. Doch dann wird die Zeit knapp. Nimmt man auch noch den Abschlusstermin weg, läuft man Gefahr, X in endlosen Iterationen zu erweitern und umzubauen.
Aus der Praxis der akademischen Philosophie: Um Betreuung im Doktoratsstudium zu erhalten, muss dem Doktoratsbeirat ein Expose vorgelegt werden, das er gutheißt. Es handelt sich um eine Spezifikation. Die Angabe des Wunschresultates in möglichst nachvollziehbaren Gedankenschritten. Dabei ergeben sich zwei sehr verschiedene Verhältnisse zum Problem des Ausformulierens. (Der Festschreibung der Ziele, die zu erreichen sind.)
(1) Im Institut in Wien hat sich eine hoch anspruchsvolle Fixierung auf die Kunst der Spezifikation ergeben. Projektbeschreibung wird eine eigene Kunst. Die Vorlage darf keine Lücken und lose Fäden enthalten; sie muss möglichst kompakt sein und darf für niemanden der Beiratsmitglieder Anstoß erregen. Sie soll gleichzeitig erkennbar standardisiert und innovativ-eigenbestimmt sein. Kurzum, es handelt sich nicht um einen ersten Schritt zu weiteren Ausarbeitungen, sondern zu einem Leistungstest sui generis.
(2) Dem steht gegenüber, dass im weiteren Verlauf des Dissertationsprojektes niemand vom Beirat noch irgendetwas vom Fortgang erfährt, oder zu ihm etwas zu sagen hat. Das Ganze ist ein Vorgang, an dessen Beginn man das Eingeständnis jeder Unsicherheit eliminieren muss und anschließend auf die Reise geschickt wird. Hier endet die Parallelität mit der Spezifikation, denn sie würde bedeuten, dass die Dissertation nach drei Jahren demselben Beirat vorgelegt und von ihm abgenommen wird. Das wäre im gängigen Sinn ein Dissertationsprojekt.
Der Doktoratsbeirat glorifiziert den Projektantrag zu einem Meisterstück. Und auf den Hinweis, dass damit die philosophische Bewegung gemaßregelt wird, kann er antworten: Nach der Härteprobe sind wir nicht mehr zuständig.