Die Mühen der Geschichtsdeutung. Politisch und Religiös.

“Allegories of Judaism and Christianity”. Bronze sculpture. St Joseph’s University, Philadephia. Image Credits: Calimeronte, Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International
Vor etwa einem Jahr habe ich hier über Ecclesia und Synagoga geschrieben: das Figurenpaar, das die jüdische Synagoge und die christliche Kirche personifiziert. Das Bild, das ich damals verwendete, stellte die Überlegenheit von Ecclesia gegenüber Synagoga dar. Es offenbarte eine überhebliche Geste. In der obigen Skulptur von 2015, sitzen die beiden Damen gleich berechtigt und gleich befähigt. Die Skulptur wurde zum 50-jährigen Jubiläums des zweiten Vatikanischen Konzils errichtet. Im Oktober 1965 wurde – nach mehreren Revisionen – die Deklaration “Nostra aetate” (dt.: “In unserer Zeit”) verabschiedet, die die Einstellung der katholischen Kirche zum Judentum radikal veränderte, und die Überheblichkeit weitgehend hinter sich ließ. Auch das erste apostolische Schreiben von Papst Franziskus im Jahr 2013 zeigt das Bemühen um ein freundschaftliches Verhältnis mit dem Judentum, und weist auf die antisemitische Vergangenheit der katholischen Kirche hin. Mittlerweile sind beide Institutionen “alt”, und die christliche Leseart der jüdischen Schriften ist etabliert, neben der jüdischen. So können beide nebeneinander sitzen.

Diese Maturität ist im Russland-Ukraine-NATO-Konflikt noch zu vermissen. Russland (1) wirft der NATO vor, entgegen früherer Versprechungen, zu weit nach Osten vorzudringen, und (2) behauptet, dass die Ukraine kein eigenständiger Staat wäre. (3) Die NATO andererseits verweigert, auf russische sicherheitspolitische Bedenken einzugehen. Ein gefährlicher Deadlock. [1]
Es folgen zwei Gedanken dazu. Der erste hat politischen Bezug und weist auf eine kleine Auslassung in der Geschichtsdarstellung in einem “Die Zeit”-Artikel hin. Angesichts der russischen militärischen Intervention mag dies kleinlich wirken. Es reicht jedoch nicht, den russischen Machthabern ein irrationales Vorgehen vorzuwerfen, ohne zumindest den Versuch zu machen, das Verhalten in historische Zusammenhänge zu bringen. Dort angekommen, wird es immer noch ein fataler Sprung sein, der zur Entscheidung einer militärischen Intervention führt. Aber zumindest wird man sich die Fähigkeit zu einem zukünftigen Dialog erhalten. Verstehen heißt nicht Akzeptieren. [2]
Der zweite Gedanke: Die systematischen Überlegungen des Jesuiten Henri de Lubac haben – neben anderen französischen Katholiken in dieser Zeit – die katholische Kirche zu einem vertieften Verständnis der jüdischen Spiritualität geführt. Das kann hier nur angedeutet werden. [3] Für mich ist es ein Hinweis darauf, dass die religiösen Traditionen Schätze und Konflikte aufbewahren, die auch in “säkularen” Zeiten wertvoll und lehrreich sind. Hier meine ich vor allem den Umgang mit überliefertem Text, der am fruchtbarsten ausfällt, wenn man ihn sowohl historisch-kritisch als auch inspiriert von gegenwärtigen Problemen liest:

“Je reicher und kraftvoller der religiöse Gehalt eines Textes ist, um so leichter wird er durch eine allzu rasche oder allzu beschränkte Art, darin nach einem “geistigen” Sinn zu fahnden, seiner Kraft und Schönheit beraubt. Hier zeigt sich, daß beide, die kritische und die allegorische Methode, wo sie auf ihrer Ausschließlichkeit bestehen, nur ertötend wirken. Es gilt daher, gegen eine übertriebene oder allzu unmittelbare Anwendung der geistigen Deutung aufzutreten, im Namen des religiösen Wertes, der im Buchstaben und in den Situationen des Alten Bundes enthalten ist.” (S. 35) [4]


1. Die Geschichtsdeutung der NATO-Ost-Erweiterung

“Falsch gedeutete Geschichte kann Krieg begründen”, schreibt Michael Thumann, 23.2.2022 in der Zeit Online in einem Artikel mit dem Titel “Wladimir Putin: Der Geschichtsvollzieher“. In dem Text wird eine Aussage Putins bei einer Pressekonferenz im April 2004 zitiert, unmittelbar nach der Ost-Erweiterung der Nato (Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei und Slowenien), gemeinsam mit dem deutschen Kanzler, Gerhard Schröder: “Hinsichtlich der Nato-Erweiterung haben wir keine Sorgen mit Blick auf die Sicherheit der Russischen Föderation.” Und jedes Land habe “das Recht, seine eigene Form der Sicherheit zu wählen.”

Thuman deutet die Geschichte so: “Kein Wort von gebrochenen Versprechen oder einer Gefährdung Russlands” und impliziert: Wenn Putin vor 18 Jahren kein Problem mit der Nato-Erweiterung hatte, und zugestimmt hat, wie kann er jetzt die Ukraine angreifen und in Besitz nehmen?
Worüber Thumann kein Wort verliert, ist im “The Telegraph”-Artikel von Anton La Guardia im Jahr 2004 nachzulesen: “President Vladimir Putin yesterday shrugged off the expansion of Nato to Russia’s borders despite open hostility from senior Russion officials and MPs” – und dazu gehörte auch der derzeitige und damalige Außenminister Sergei Lavrov: “We didn’t want this enlargement, and we will continue to maintain a negative attitude. It’s a mistake.”

Geschichtsdeutung ist kein einfaches Unterfangen, für niemanden. Man sieht seine Anliegen allzu schnell in der Vergangenheit bestätigt / verankert.

2. Henri de Lubac über das Schriftverständnis


Auf einem anderen Feld (Religion) zu einer anderen Zeit (1950’er und 60’er Jahre) macht sich Henri de Lubac Gedanken über die Deutungs-Operationen, die von den frühen Christen vorgenommen wurden, um mit dem überlieferten jüdischen Texten umzugehen und eine neue Begebenheit zu integrieren: Jesus. Man modifiziert die Deutung eines wörtlich unveränderten Textkorpus. Man findet in den “alten” Texten Hinweise, die verblüffende Vorahnungen sind von dem was sich durch Jesus ereignet hat. Man schreibt die neuen Testamente, inspiriert von den alten, und findet in den alten Texten das Werkzeug für die neuen Texte und Praktiken.
Die Integration ging zunächst einher mit einer Verachtung der Mainstream-Praxis der “Pharisäer”, die sich auf diese Texte in ihrer alten Leseform beriefen und die die “Nazarener” als Sekte ansahen. Paulus, vor seiner Bekehrung selbst ein Pharisäer, ist bekannt für seine “kraftvollen theoretischen Formeln, die entscheidend auf die christliche Überlieferung wirkten”:(S. 36) “Das Gesetz [von Mose], das tötet”, aber “der Geist, der lebendig macht”. Den problematischen Aspekt der Präfiguration habe ich letztes Jahr mit Klaus Heinrich und seinem Text “Wie eine Religion der anderen die Wahrheit wegnimmt” behandelt.
Heute möchte ich die Warnung von Henri de Lubac hervorheben, dass man beide Schriftsinne braucht, den wörtlichen und den allegorischen, für einen zukunftsträchtigen Fortbestand, der sich zum Teil vergangenen Erlebnissen, Handlungen und Gedanken einer Gruppe von Menschen verdankt. Die Allegorisierung ist nur unter Umständen gerechtfertigt, wenn sie das, was als Material genommen wird, für sich ernst nimmt, durchgearbeitet hat und versteht, warum der neue Deutungshorizont in diesem Kontext auftauchen konnte.

De Lubac unterscheidet in einem ersten Anlauf zwischen dem wörtlichen Sinn/Geschichtssinn und dem geistigen/allegorischen Sinn (der dann noch einmal dreigeteilt werden kann und in Summe den vierfachen Schriftsinn ergibt). Die unmittelbare Anwendung des geistigen Sinnes läuft Gefahr, zu oberflächlich und inhaltsleer zu werden, wenn man sich nicht die Mühe macht, auch den wörtlichen Sinn zu verstehen.
Nichtsdestotrotz hält de Lubac an der Wichtigkeit von Allegorien fest, die es ermöglichen, die Relevanz der Texte in der Gegenwart (d.h. für die Frühchristen: die Relevanz der Texte nach Tod und Auferstehung Jesus) und sein eigenes persönliches Glaubensverständnis am überlieferten Text zu verfeinern: “Bevor man den Alten Bund durch den Neuen geistig auslegen kann, muss man notwendig den Neuen durch den Alten geschichtlich verstanden haben.” (S.34) Die Voraussetzung dieser Kombination von zwei Operationen ist, dass der neue Bund, wie ein Axiom angenommen d.h. geglaubt wird. Unter diesen Vorzeichen ist die Verführung groß, direkt das oberflächliche Verständnis des Alten zu kritisieren und zu revidieren. Wenn man der Versuchung widersteht und es vermeidet, ohne Einsicht in die geschichtliceh Entwicklung schnelle Konsequenzen zu ziehen, kommt man in die Gelegenheit, die Entstehung des Neuen historisch zu erforschen und seine Neuheit besser einschätzen zu können.
Es ist also nicht nur der Bruch, der gründet (Michel de Certeau), sondern die historische Basis. Das Neue hängt ab von dem Entstehungskontext, und dieser ist sowohl als historischer Ablauf als auch allegorisch beschreibbar. Ambrosius in “De Abraham” definiert eine Allegorie wie folgt: “Allegoria est cum aliud geritur et aliud figuratur” (unzureichend übersetzt: Von einer Allegorie spricht man, wenn etwas durch etwas anderes geformt wird).” Um die Allegorie im historischen Ablauf zu sehen, braucht man jedoch eine Orientierung, und die gibt das neue Axiom. Darum ist für de Lubac wichtig festzuhalten, dass Allegorien zur Phantasie werden, wenn es die Grundlage für dieses Axiom nicht geben würde, d.h. wenn es Christus, (a) angebahnt durch die stetige Entwicklung im alten Bund, (b) zum ersten Mal realisiert in Jesus von Nazaret, und (c) weiter fortgesetzt durch die Kirche, nicht geben würde:

“Wenn demnach das Faktum Christi nicht bestünde und nicht in der Kirche seine Fortsetzung fände, dann wären alle Auslegungen, die innerhalb des Christentums mit dem Namen “geistige Sicht” oder mit ähnlichen Namen bezeichnet werden, reine Hirngespinste. […] Denn die “Neuheit”, auf der diese Auslegungen beruhen, wäre dann ebenso “eitel” und hohl wie das “Alte”, das sie beiseite schieben. Um von Israel zur Kirche überzugehen, bedurfte es der christlichen Revolution. Um den christlichen Sinn der jüdischen Schriften zu entdecken nicht minder. […] Er [der christliche Sinn, A.K.] setzt einen Schnitt voraus, einen Abbruch, das Überschreiten einer Schwelle, was bei einer rein-historischen Auslegung niemals gerechtfertig wäre.” (S.38)
Man benötigt ein Vorverständnis um das Neue überhaupt zu erkennen. Den Anstoß schafft das die historische Situatione erweiternde Faktum, das nicht komplett neu ist, aber eine Diskontinuität einführt.
Dies könnte man für die oben vorgestellte Ukraine-Russland-Nato-Problematik bedenken : Basiert die eingeführte Diskontinuität auf einem greifbaren Tatbestand in der Gegenwart, oder einer willkürlichen Setzung? Die Vergangenheit und ihre Verträge, Konflikte, und Begebenheiten, auch wenn sie unter derzeitigen Vorzeichen untragbar scheinen, bedürfen einer Auslegung im geschichtlichen / wörtlichen Sinn.
Ist ein Geschichtsverständnis dieser Art unrealistisch? Gewalt und Macht können diese Versuche schnell blockieren und zusätzliche Fakten schaffen. Zumindest können Teile der Zivilbevölkerung diese Prüfung durchführen.
Die pessimistische Nachricht ist: Die katholische Kirche hat Jahrhunderte gebraucht, um sich vom Resentiment jener historischen Situation, aus der sie entstanden ist, zu verabschieden. Es ist eine Gratwanderung, einerseits von der Wahrheit überzeugt zu sein und dennoch Raum anderes zu lassen.
Bleibt zu hoffen, dass die Fallen der säkularen Schrift- & Geschichtssinne auf allen Seiten schnell erkannt und vermieden werden können.

Bemerkungen

[1] Noam Chomsky’s Analyse ist, dass Russland’s Sicherheitsbedenken in den vergangen Jahren in den Verhandlungen ignoriert wurde: “We might ask why Putin has taken such a belligerent stance on the ground. There is a cottage industry seeking to solve this mystery: Is he a madman? Is he planning to force Europe to become a Russian satellite? What is he up to? One way to find out is to listen to what he says: For years, Putin has tried to induce the U.S. to pay some attention to the requests that he and Foreign Minister Lavrov repeated, in vain. One possibility is that the show of force is a way to achieve this objective. That has been suggested by well-informed analysts. If so, it seems to have succeeded, at least in a limited way.”

[2] Das ist u.A. eine philosophische Kritik, die Alain Badiou an Kant angebracht hat, in einem Gespräch mit Jean-Luc Nancy. “As soon as we start to say that there is a “thing” whose true nature is that we cannot know it, we enter the realm of obscurantism—we adopt a dangerous vision of existence according to which we have to accommodate and live with things that exist, that are there, but that we can neither know nor even understand. Now I think this kind of vision manifests itself in all sorts of contemporary claims.

When the prime minister of my country [France] says that to attempt to explain something is already to justify it (yes, he said it in relation to the mass murders in Paris in November 2015), then this amounts to saying: if you attempt to explain these terrible things, you are already on the way to excusing them. He said: to explain, that is, to attempt to know, to understand, is already to excuse. And that’s a very widespread idea. Combatting this idea philosophically requires us to affirm that this kind of statement is obscurantist and inadmissible.

We have to universally uphold the thesis that we can acquire genuine knowledge of what takes place.”
from: Alain Badiou and Jean-Luc Nancy: German Philosophy: A Dialogue. The MIT Press. 2018.
 

[3] Siehe Richard Francis Crane: Cracks in the Theology of Contempt: The French Roots of Nostra Aetate” (2013). Noch vor dem zweiten Weltkrieg hatte der französische Philosoph Jacques Maritain (1882-1973), der 1906 mit seiner von Russland geflohenen jüdischen Frau Raïssa (1883-1960) zum Christentum konvertiert ist, auf die Achtung der jüdischen Wurzeln hingewiesen. Die beiden hatten jedoch eine radikale Umkehr hinter sich. Vor 1930 finden sich vor allem auch anti-semitische Vorstellungen, die später abgelegt wurden: Im Jahr 1935 veröffentlichte Raïssa einen Aufsatz (Histoire d’Abraham ou La sainteté dans l’état de nature / dt.: ), der 30 Jahre später die stark umstrittene Deklaration des 2. Vatikanischen Konzils mitinspirierte:

“[This article is an] exegetical reading of Genesis to explore the inner life of Abraham. Raïssa portrayed Abraham (whom Bloy had once portrayed as an “incomparable blackguard”) as the first in a long line of mystical heroes whose faith emerged from the dark night of the soul. She thus pushed back on prevailing discourses in Europe that claimed the figures from the Hebrew Bible lacked interiority. She dismantled the classic accusation of Jewish legalism by showing how Abraham’s fidelity to the
law is grounded in love, and Abraham consequently becomes the figure who “unites the Old and New Testaments.” She read the later Pauline notion of law as rooted not only in the gospel and but also Deuteronomy. Raïssa’s essay was republished in the postwar period, expanding the conversation her friend Oesterreicher, later one of the drafters of Nostra Aetate, had been initiating.” (page 7)

Im Text von Richard Francis Crane finden sich auch mehr Hintergrundinformationen über die Schwierigkeit für die katholische Kirche, den theologischen Anti-Semitismus abzulegen. Es empfiehlt sich (auch für mich) eine genauere Lektüre.


[4] Die Seitenzahlen im Fließtext beziehen sich auf: Henri de Lubac: Typologie. Allegorie. Geistiger Sinn. Studien zur Geschichte der christlichen Schriftauslegung. 3. Auflage 2014. Johannes Verlag. Einsiedeln 1999. Es handelt sich um eine Übersetzung von Rudolf Voderholzer von Teilen dieser Originaltexte:

  • L’Écriture dans la Tradition (Aubier 1966)
  • Exégèse médiévale. Les autre sens de l’Écriture (Aubier 1959-1964)
  • Théologies d’occasion (Desclée de Brouwer 1984)

 

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