Everything bends before it breaks.

Mir begegnen spannende Situationen; also Situationen, wo Spannungen vorkommen.  Dann stehe ich manchmal ratlos darin oder erschrecke, wenn die Frage auftaucht, ob das nicht brechen muss.

An der eidgenössischen technischen Hochschule in Lausanne (EPFL) muss man, bevor man sich eine Studienbestätigung ausdrucken kann, einen Code of Honor akzeptieren, in dem die Etikette akademischen Arbeitens beschrieben wird:

  • Kollaboration mit Fakultät und KollegInnen
  • Teilnahme an Diskussions- und Entscheidungsprozessen
  • Unterstützung von StudienkollegInnen
  • Weigerung zu betrügen
  • Weigerung Plagiate anzufertigen
  • Respektvoller Umgang mit Personen, der EPFL und deren Institutionen
  • Adäquater Umgang mit EPFL-Ressourcen

Bekannte Werte also. Daran soll man sich orientieren. Und dann… biegt oder bricht es:

Through my actions and commitment to this Honor Code, I contribute to the impact and reputation of EPFL and thus enhance the value of my diploma.

Warum soll ich kein Plagiat schreiben? Naja, du sollst es unterlassen, weil es eine – wie immer sinnvolle – Übereinkunft der akademischen Gemeinschaft ist, dass man Quellenangaben macht. Wir könnten das innerhalb unserer Institution natürlich ändern, doch wir tun es nicht. Warum tun wir es eigentlich nicht? Sieh dir doch den letzten Satz an: Es würde unsere Reputation schädigen und unseren Einfluss auf die akademische Landschaft verringern. Darum tun wir besser daran, dieser Obligation zu folgen und wenn du klug bist, machst  du das besser auch, sonst verringert sich der Wert deines Abschlusses auf unserer Universität oder wir erwischen dich und du machst bei uns gar keinen Abschluss.

In diesem Verhaltenskodex steht die Mission, Wissen zu erstellen, zu tauschen und anzuwenden nicht für sich. Die letzte Maxime für das Verhalten einer Studentin in einer Hochschule ist offenbar: den Wert ihres Abschlusses zu erhöhen. Es wird erwartet, dass sie so entscheidet, dass der Wert ihres Abschlusses erhalten bleibt oder verbessert wird. Betrachtet man genau diese Perspektive isoliert, wird eine kluge Studentin punktuell betrügen oder plagiieren, wenn sie sich dabei nicht erwischen lässt und sie sicher sein kann, dass keine großen Schäden für den Ruf der Universität zu erwarten sind.

Jetzt sind wir beim Alltag angelangt. Doch ich staune und erschrecke vor dem Kontrast zwischen den zitierten Zeilen und akademischem Verhalten. Letzeres wird hier nicht durch Explizieren der strukturellen Bedingungen von akademischer Arbeit plausibel gemacht, sondern durch Reputation, Einfluss und Privatinteresse.

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Ein Thema impliziert bestimmte Strukturen. Jemand greift den Namen des Themas auf, ihm geht es aber nicht um die Sache, sondern er nennt den Namen, um allgemein verankerte Vorstellungen zu wecken, jedoch eigene Interessen voranzutreiben.

Man kann einen christlichen Gottesdienst feiern und danach Anton LaVey’s Satanic Bible lesen. Oder anders herum: Man kann Mitglied der Church of Satan sein und bei einem Zwiegespräch für christliche Werte einstehen. Obiger Code of Honor will Bedingungen für die Entwicklung paradigmen-wechselnder Ideen und der kollaborativen Bearbeitung von Wissen aufrecht erhalten. Doch er selbst legitimiert sich letztlich durch Macht- und Karrierestreben. Können wir uns damit abfinden? Ist das ein Bruch oder eine Spannung?

2 thoughts on “Everything bends before it breaks.

  1. Es ist auch ein schönes Beispiel der “Vereinbarungskultur”. Die Universität bezieht sich nicht auf externe Werte, sondern versucht, mit den Studierenden ein Einverständnis herzustellen. Nicht: “richte Dich nach diesen Werten”, sondern: “Du wirst doch mit uns dieser Meinung sein”.

    Einerseits ist das im Rahmen einer Konsenstheorie vertretbar, andererseits extrahiert es aus der Konsenstheorie (im starken Sinn) den Grund für den Konsens, nämlich die gemeinsame sachlich unabhängige Überzeugung. Kant würde sagen: Wenn es Du es zu Deinem Wohlergehen machst, ist es nicht sittlich.

    Nun kann man skeptisch gegenüber der Auffassung sein, dass moralische Werte jenseits der Pragmatik liegen. Aber die umgekehrte Schwierigkeit liegt darin, dass praktische Nützlichkeit sich in ein moralisches Gewand kleidet.

  2. In gewisser Weise nimmt die Hochschule mit dieser Formulierung den Studenten wieder aus dem Konsens heraus. Sie sagt eben nicht: Du wirst doch mit uns der Meinung sein, dass unter diesen Bedingungen ein Klima machbar ist, in dem wir in der Forschung Erfüllung finden können, sondern: Bring die Abläufe nicht durcheinander, dann gibt es ein höherwertiges Ergebnis. Ich kann darauf aus sein, daß die akademische Gemeinschaft funktioniert, weil ich mich darin aufhalten möchte oder weil ich mit einem wertvollen Abschluß daraus hervorgehen – also *herauskommen* – möchte.

    In einem Fall bin ich Teil einer Gemeinschaft, im anderen treibe ich einen Handel mit ihr. Wenn ich mich mit einer Gemeinschaft und ihren Werten identifiziere, dann sind die richtigen Verhaltensweisen für mich förderlich, *weil* sie für die Gemeinschaft förderlich sind. Andernfalls muß ich erst fragen, was ich dafür von der Gemeinschaft bekomme.

    Die Formulierung des Code of Honor ist da aber nicht ganz eindeutig. Sie könnten sagen: Wenn du dich unseren Werten entsprechend verhältst, bekommst du auch etwas von uns, nämlich ein Diplom (und wenn du abschreibst, fliegst du raus). Das sagen sie gerade nicht. Der Text tut so, als würden sie das Diplom auf jeden Fall hergeben. Wir nehmen dich vorbehaltlos auf und geben dir ein Diplom – aber wenn du uns nicht schadest, können wir dir ein mächtigeres Diplom geben. Man könnte sich auch vorstellen, daß die Hochschule den Studenten wiederum nicht aus dem Konsens herausnimmt, sondern versucht, ein Ideal akademischer Kooperation an Leute zu vermitteln, von denen sie glaubt, daß sie nur ihren Abschluß im Kopf haben.

    Übrigens garantiert das Sich-Identifizieren mit der Gemeinschaft auch noch nichts. Auch wenn ich statt meines eigenen Wohls hauptsächlich an das meiner Universität denke, kann ich ein Plagiat für angemessen halte, wenn niemand was merkt und die Publikation dem Ruf der Uni dient. Vielleicht macht die Hochschule den Studenten weniger zu ihrem Handelspartner als zu ihrem Mitarbeiter im Handel mit der akademischen Welt.

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