Hans Pechar hielt gestern am “Center for Teaching and Learning” die friday lecture zum Thema „Humboldt in der Massenuniversität? Vom Elend der neuhumanistischen Bildungsreligion“. Seine Überlegungen erinnern an die Geschichte vom kleinen Jungen, der auf der Straße einen Würdenträger sieht: “Aber der ist doch nackt!” Ähnlich entwaffnend waren zwei Bemerkungen, mit denen er den gewöhnlichen Schwulst der Bildungsdebatte durchschnitt.
- Ab den 60-er Jahren, mit dem Beginn der “Massenuniversität”, erreichen immer mehr Personen einen akademischen Abschluss. Entsprechend verringert sich sein Wert. Er ist nicht mehr so exklusiv, wie früher. Selbstverständlich wünschen sich die Studierenden die Zeit zurück, als sie noch privilegierter waren.
- Vertreterinnen (m/w) der Kultur- und Humanwissenschaften verlangen lautstark mehr Investitionen in das Bildungswesen. “Investition” ist ein Terminus aus der Wirtschaft. Dieselben Gewährsleute kritisieren die “Ökonomisierung der Bildung” scharf.
Speziell ansprechend fand ich einen dritten Hinweis. Es ging um die Forderung der Studierenden, keine neue Bildungshürden zu schaffen (Master über Bachelor, PhD über Master). Hans Pechar brachte einen Vergleich. Die Wiener Wohnungssituation hat sich im Vergleich zur Zwischenkriegszeit allgemein verbessert. Mehr Platz, weniger Gesundheitsgefährdung für alle. Aber das heisst nicht, dass es keine Luxuswohnungen mehr gibt (oder geben soll). Die Villa mit Seeblick bleibt ein Wunschobjekt.
Ich habe dasselbe Bild vor einem Jahr am Ende einer Vorlesung verwendet: Recht auf ein Seegrundstück?. Das hat eine entsprechend angeregte Diskussion provoziert.
Also ich habe mir den Abschnitt von der Vorlesung gerade noch einmal angehört und mir bleibt nichts anderes als wieder daran Anstoß zu nehmen, nicht weil der Vergleich gänzlich verfehlt ist, sondern weil er – wie bei Vergleichen üblich – nicht alles abdeckt:
OK, die Anzahl der Studierenden ist gestiegen und Abschlüsse in einem Studium sind nicht mehr notwendigerweise etwas Besonderes. Wie in anderen Bereichen der Gesellschaft gibt es wachsende Kompetition und wachsende formale Regelungen (das ist im asiatischen Raum noch viel schlimmer, wie ich die letzten Wochen in Gesprächen erfahren habe: In China gibt es über eine Million Anwerber auf 50 Studienplätze jener wenigen Universitäten, die etwas zählen, wenn man aus China raus will).
Ich stimme auch zu, dass es verfehlt ist, eine “erfüllte Lebenskarriere” zu fordern, weil das eher ein Prozess ist, den man sich selbst als Aufgabe formuliert – und wo glückliche Umstände dazugehören.
Wo ich aber nicht zustimme ist, dass das, was beim Studieren vor sich geht, alles in eine Richtung führt. Ich glaube eben nicht, dass es beim Protest und mit diesem Slogan nur darum ging, Privilegien (Ausnahmeregelungen für die Schicht der Studierenden) einzufordern und abzusichern.
Es gibt so viele Nischen, Randbereiche und Interaktionen von Disziplinen, die sowohl gesellschaftlich als auch persönlich interessant sein können. Das zu sehen, wird aber von der administrativen Struktur erschwert. Ich habe auch keine Instant-Lösung. Meine Reaktion ist, selbst mehr Zeit reinzustecken.
Ich gebe zu: für neugierige, stark motivierte Studierende sind die strikteren Regeln ärgerlich und unnötig. Sie gehören definitiv zu den Verlierern der Entwicklung. Aber das würde ich nicht unter dem Terminus “Bildung” diskutieren.
Mein Unbehagen daran deckt sich mit jenem, das Ernst Ribolits formuliert Möglichkeiten und Grenzen emanzipatorischer Bildung an den Universitäten oder Bildung – Kampfbegriff oder Pathosformel?. Obwohl Ribolits selbst mir zu viele Pathosformeln verwendet.
“Zudem wird überwiegend so getan, als ob sich die Universitäten aus den die Gesellschaft als Ganzes prägenden Kampf Jede/r gegen Jede/n heraushalten und unter der Prämisse emanzipatorischer Bildung agieren könnten.”
d’accord – es trägt zum Gesamtgeschehen bei, dass sich Studierende in den Universitäten mehr um die Freiheiten in ihrem Studium und die Barrieren für ihren Abschluss kümmern als ihre Zeit für die Analyse der Umstände zu verwenden, die zum breiten Einsatz von Automatismen und Frameworks geführt hat, die die Freiheit des Einzelnen zumindest stört und verschiebt. Das aber geschieht in vielen Lebensbereichen, nicht nur an den Unis.
Anstatt diese Zusammenhänge genauer anzusehen, lassen sie sich ungewusst in dieselben einspannen – in politisch-ökonomische Debatten um die Verteilung von Staatsmitteln – mit schwingenden Fahnen für die freie Bildung – in Vollversammlung und Audimax-Besetzung.
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Vielleicht verstehe ich es jetzt besser… Der Punkt also ist: Das Framing, das das Wort “Bildung” in einem Slogan erzeugt, verdeckt die Sicht auf die gegenwätigen Zustände von Universität und ihrem gesellschaftlichem Umfeld. Der Zustand wird darauf reduziert, dass eine Wunschvorstellung (nämlich die nach der freien Entfaltung des Individuums) nicht erfüllt ist.
(Framing: http://de.wikipedia.org/wiki/Framing_(Kommunikationswissenschaft) )