Gemeinheit

In der Debatte um die philosophischen Ansprüche der Hirnforschung, die sich im letzten Jahr entwickelt hat, herrscht in der Regel ein vornehmer Ton. Insgeheim flüstern sich Philosophinnen (m/w) schon zu, dass sie es mit Amateuren zu tun haben, aber es ist inopportun, Naturwissenschaftler direkt zu attackieren. Ich halte mich auch daran. Nur Herbert Schnädelbach hat sich in einem – leider nicht am Netz verfügbaren – Aufsatz in der “Frankfurter Rundschau” über die Herren lustig gemacht.

Der Ton wird schärfer. Petra Gehring hat in einem Literaturbericht in der Philosophischen Rundschau schwere Geschütze aufgefahren. Der erste Teil des Beitrags ist eine phänomenologisch-wissenschaftstheoretische Diskussion. Gegen Ende attackiert sie aber die sozialen, insbesondere juridischen, Auswirkungen:

Die Abschaffung der Schuldstrafe gehört zum Repertoire staatsrassistischer Erziehungsdiktaturen oder ruft solche auf den Plan.

Mit Singer und Roth würde ein durch neurowissenschaftliche Gutachten gesteuertes Gefährlichkeits-Verwahrsystem drohen, und da nun das Böse nicht mehr in der Seele, sondern im ‘Hirn’ sitzt, bleibt womöglich die Hirnmanipulation als der einzige Weg ins Freie.

Zuletzt ganz unverblümt der Verdacht: vielleicht suchen die Hirnforscher unter den Verbrechern Versuchskaninchen.

der geist weht

Gerhard Spann hat in einem Kommentar mehr Symposien wie das vom vergangenen Wochenende angeregt. Nun, es war ein bemerkenswertes Ereignis. Einerseits war deutsche Prominenz nach Wien gekommen. Die Vorträge von Jens Halfwassen und Christoph Rapp boten erste Qualität. Andererseits wurden die Wiener Philosophinnen Überhaupt erst einen Tag vor dem Treffen informiert. Es war von der “my way Privatstiftung” ausgerichtet worden und wandte sich an ein Publikum, das mehrheitlich nicht aus der akademischen Philosophie zu stammen schien.

Die Diskrepanz ist am Kopf des Programmzettels augenscheinlich:

Ein Pfad zur Erleuchtung wird von zwei Geist-xC4pfeln flankiert, die vielleicht auf den kommenden Advent (Bratäpfel) hinweisen.

intellectus agens

Der Zufall will es, dass ich letzte Woche zwei Begegnungen mit dem “intellectus agens” hatte. Die erste in der betreffenden Bemerkung zu PowerPoint von hck, die zweite gestern in einem klassischen Philosophie-Vortrag.

Cristoph Rapp aus Berlin sprach über Geist und Seele bei Aristoteles, mit Ausblick auf Thomas v. Aquin und hatte einige interessante Bemerkungen parat. Es scheint, dass Aristoteles bloss an einer Stelle in seinem gesamten Werk von diesem tätigen Intellekt spricht. Es handelt sich um 15 Zeilen und die Eigenschaften, die er diesem Intellekt zuschreibt, stammen alle aus dem Bereich des Göttlichen.

Nach Rapps Darstellung hat die aristotelische Tradition, und speziell Thomas, versucht, diese göttlich gefärbte intellektuelle Tätigkeit als Eigenschaft des menschlichen Geistes zu fassen. Systematisch hängt daran u.a. die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele. Wenn der intellectus agens sie bestimmt, ist sie immateriell und damit vor dem Tod geschützt.

Keinerlei PowerPoint in diesem Vortrag. War auch nicht nötig, er war spannend ohne diese Unterstützung. Aber es braucht auch eine spezielle Klientel dazu, sich eine Stunde lang eine Spezialvorlesung zu Aristoteles, Averroes und Thomas von Aquin anzuhören (geschweige denn über Siger von Brabant :-))

Sinnliche Gewissheit

Gestern vor dem Parkhotel in Hietzing ein bewegender Anblick. Eine Gruppe von Mittelschülerinnen, hergerichtet nach allen Regeln der Bourgeoisie dieses Nobelbezirkes. Offenbar ein Schülerinnenball. Diese Sozialformation verschwindet nicht dadurch, dass man sie für überholt erklärt und/oder nicht beachtet.

Das hat eine gewisse xC4hnlichkeit mit dem Buch, das ich mir heute näher ansah, Brady Bowmans eben erschienene Studie über das Anfangskapitel von Hegels “Phänomenologie des Geistes”. Publiziert sozusagen in Hietzing (im Akademie-Verlag) und solide gearbeitet nach allen Erfordernissen des klassischen deutschen Philosophiebetriebes. Dabei jedoch von einer atemberaubenden Voreingenommenheit für Hegels unverstellte Lehre, gegen die Versuche der letzten Jahrzehnte, diesen Text mit zeitgenössischen Standards zu konfrontieren. Jeans für die Freizeit, am Ball trägt man nach wie vor Abendkleid.

Nach Bowman beginnen Hegels Ausführungen beim Absoluten, wohin sie auch münden. Der bekannte zielstrebige, unentrinnbare Bildungsprozess. Das ist als immanente Interpretation sicherlich richtig. Aber wo soll das hinführen?

Kausalverhältnis

Heute in der Nationalbibliothek, Manuskript 142, eine Wittgenstein-Handschrift. Nicht irgendeine, sondern die Urfassung der “Philosophischen Untersuchungen” aus dem Jahre 1936.

Es ist ein dickes Kontorbuch, die Deckel ziemlich abgewetzt, die Ecken abgestossen, die EInträge in schwarzer Tinte. Wie an mehreren anderen Stellen quält sich Wittgenstein auch hier mit der sprachlichen Fassung des (angestrebten) Buch-Beginns. Eine vielfach korrigierte erste Seite, die freie Seite für alternative Versionen verwendet, auf Seite 77 eine Verbesserung der ganzen Passage.

Ein physischer Kontakt mit diesem Buch hat Züge des Reliquienkultes. Es ist unmöglich, sich der Suggestion, etwas von Wittgenstein zu berühren, gänzlich zu entziehen. Und obwohl in aller Welt die gedruckte und digitalisierte Fassung dieser Seiten zugänglich ist, ist es doch ein Thrill, in Wien das Original einsehen zu können.