Alain Badiou verbindet Mengentheorie mit Existenzialismus, oder soll man sagen, dass er sie durchmischt? Die Grundlegung der Mathematik befasst sich nicht mit Zeit, die menschliche Existenz dagegen ist immer im Augenblick verletzlich. Es gibt zwar einen Rundumblick, innerhalb dessen Menschen das sind, was sie waren und sein werden. Grammatisch kann das mittels der Vorzukunft ausgedrückt werden: “Ich werde sein, was ich schon gewesen bin”. Die Schwierigkeit ist, dass dabei die umwerfende Überraschung (“das Ereignis”) fehlt, die Badious Theorie ebenfalls vorsieht.
Ein Konzert hat mich auf den Gedanken gebracht, dass zu Badious Mixtur auch Zen gehört. (Das wird er vielleicht ungern hören.) Dan Tepfer spielte Bach, er hat 2009 eine CD mit Lee Konitz aufgenommen. In deren liner notes findet sich eine Zen Episode, von der eine Variation nach Alan Watts folgendermaßen lautet.
Das eine Szenario ist “ontologisch”: die Mönche versammeln sich, ein Krug wird vor ihnen aufgestellt, der Meister stellt eine Frage. Der klügste Mönch weicht der Fangfrage aus und bleibt doch im Bereich des Greifbaren: der Krug ist nicht aus Holz. Dann kommt der Koch vorbei, kickt den Krug zur Seite und haut ab. Das hat nun wirklich niemand erwartet – und er macht Karriere.
Dan Tepfer zitiert die Begebenheit, um die Musik Lee Konitz’ zu charakterisieren. Er hängt nicht an Gegebenheiten; beginnt immer neu. So soll auch “das Ereignis” sein: unvorhersehbar. Es öffnet die Augen für einen Umsturz.
Zum Beispiel, wenn Lee Konitz die “Marseillaise” spielt. Neu ist das allerdings, weil die Melodie alt ist. Das ist auch das Problem mit Badious Konzept. Um das Unerhörte auch nur wahrnehmen zu können, bedarf es der Vergleichsmöglichkeiten.
Die Rede vom Ereignis ist wie die Schlagzeilen, die eine Sensation verkünden, und nur solange wirken, bis sich die Sensation als “Neuigkeit” erwiesen hat.