Alte Schläuche

Beim Stöbern in den Archivschränken entdeckt Renate plötzlich etwas. “Komm mal her Alice”, ruft sie. Sie zeigt mir ein Buch mit dem Foto einer sehr schönen Frau und fragt: “Hast du die schon mal gesehen?” Nein. Wie heißt sie?
H-e-d-w-i-g D-o-h-m. Den Namen hatten wir noch nie gehört” Aber uns beeindruckt, wie klug und schön die Frau auf dem Cover des Buches aussieht, das sie offensichtlich selbst geschrieben hat. Wir begeben uns auf die Spur der schönen Unbekannten. Doch es wird noch Jahre dauern, bis wir das ganze Ausmaß des Desasters begreifen: Hedwig Dohm (1831-1919) war vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zu ihrem Tod die bekannteste, brillanteste und streitbare Feministin in Deutschland; sie hat Dutzende von Büchern und Artikel veröffentlicht – und eine mindestens ebenso große Anzahl von Schriften ist über und gegen sie erschienen. Und wir “neuen Feministinnen”? Wir kennen nur ein halbes Jahrhundert später noch nicht einmal mehr ihren Namen! (Alice Schwarzer – Lebenslauf, S.297)

Heute könnten wir die Eckdaten von Hedwig Dohm auf dem Smartphone nachschlagen, bzw. eine Liste aller Feministinnen googeln. Wir könnten… doch würde das helfen? Was hilft es, zu sagen, dass alles schon einmal gesagt, geschrieben und getan wurde, wenn die Probleme jetzt bestehen? Es gibt eine Dynamik, in der man sich nicht so sehr darum kümmert, was es früher gab, weil man ad hoc herausgefordert wird. Die gegenwärtige Lage fordert einen auf. Dann muss man sich mangelnde Umsicht vorwerfen lassen oder wird selbst bemerken, dass man im Gedanken an Neues in alte Fahrwasser gekommen ist.

Geschichtspflege ist ein wichtiger Aspekt in professioneller Philosophie. Zum Beispiel: die Problemlage rund um das immanente Seinsprinzip in Aristoteles Kategorienschrift nachvollziehen, Interpretationen und Weiterentwicklungen sammeln, zusammenführen, vergleichen. Diese beschreibende, weniger konfrontativ vorgehende Weise muss sich vorwerfen lassen,  mit Geländer auf fertigen Bahnen zu denken; oder man wird selbst bemerken, dass man sich im Detail verliert.

Man kann es so sehen: Gegeben die eigenen Erfahrungen, die man – in Proklamation seiner Unabhängigkeit – gemacht hat, und die Beulen die man sich geholt hat, beginnt eine Beschäftigung mit Überliefertem. Nicht nur gegen das Vergessen; auch, um das Eigene im Anderen zu finden.

Nur: Alte Schläuche können brechen – beim neuen Wein. Es ist keine Notwendigkeit, dass das Überlieferte  Entscheidungen in der aktuellen Lage vorwegnimmt. Darum die Beschäftigung mit ihm, zur Erhellung und Differenzierung.

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