Attraktive Dynamiken: Bedürftigkeit

“Erotisches Kapital” heißt ein Buch von Catherine Hakim. Ein Artikel in der Welt stellt die These vor, dass Erfolg oft mit erotischer Ausstrahlung zusammenhängt, und dass man letztere gestalten kann. Dabei wird zum Drüberstreuen ein französischer Philosoph referenziert, weswegen ich darauf gestoßen bin: Jean-Luc Marion. Die Resultate des ~300-Seiten Buches “Das Erotische. Ein Phänomen” werden in drei Sätzen wie folgt zusammengefasst:

[Marions] Erkenntnis: Wer geliebt werden will, muss etwas dafür tun. Anerkennung erreicht man vor allem über Bildung. Dazu zählt er ausdrücklich Herzensbildung mitsamt der Kunst des Lockens, Hinhaltens und endlichem Gewährenlassens.”

Die Verführung ist bei Marions Buch Teil einer vielgestaltigen Bewegung des Eros: Verführung, Erregung, Geschlechtsverkehr, Höhepunkt/Abbruch, Eifersucht, Heirat, Kind, Freundschaftliche Liebe, Gottes Liebe. Im Rahmen der sich an Einwänden und Gegeneinwänden entfaltenden Bewegung ergibt sich im Buch die Möglichkeit der Unterscheidung zwischen dem Wunsch nach weltlichen Objekten (Geld, Drogen, Sex, Macht und Erfolg) und dem Streben nach einer anderen Instanz, die einem eine Antwort finden lässt auf die Frage wozu man existiert.

Plakativ formuliert: Götzen und Gott. Die Unterscheidung ist ziemlich prekär. In einem Vortrag in Wien gibt Marion zu, dass die Rede über Gott dazu verführt, sie mit Gott zu identifizieren und zu verehren. Jede Identifizierung wird als voreilig argumentiert, im Sinne von “netter Versuch”. Dann wird sie eingeklammert – und weiter geht die Fahrt.

Die Suche nach Gott sowie das erotische Streben teilen – wenn man ihren Anspruch verdeutlicht – die Haltung, (1) das Gefundene zu registrieren, sogar sein Angebot wie ein Gast anzunehmen, (2) bei dieser Annahme immer wieder Neues zu entdecken und dadurch (3) beim Gefundenen nicht dauerhaft einzuziehen. Verführung ist ein Ausdruck des Liebens: zubringend, nicht hinreichend:

dreieck

Fremdbedarfsdeckung

Marions Buch erschien 2003, im 21. Jahrhundert, das ist erstaunlich. Wenn man es liest, fühlt man sich versetzt in eine Zeit, in der Thomas von Aquin in Paris lehrte und versuchte Wissensformen und Offenbarung zu verbinden:

“Die Ordnung der Glieder des Alls zueinander besteht kraft der Ordnung des ganzen Alls auf Gott hin.” (Thomas, De potentia Dei, q. 7, art. 9, conclusio)

Und heute? Fremdbedarfsdeckung oder Kundenorientierung ist eine primäre Motivation von Projekten, zumindest vorgeblich. Der Kunde ist König. Ein Unternehmen will jedoch den Bedarf vom Externen abdecken, um von ihm anerkannt zu werden. Die Vision vom Bedarf des Externen erzeugt eine Dynamik, die auf ein Ziel gerichtet ist. Ein Projekt definiert das Ziel und plant Schritte zu seiner Erfüllung. Selbst wenn man bis zum definierten Punkt kommt, ändert sich recht bald das Verhältnis zur Definition. Man argumentiert, dass sich der Bedarf des Externen geändert hat: “Die Kunden sind heute anspruchsvoller.” Weitere Projekte werden interessant. Auf diese Art bleibt man in Betrieb.

Es geht um die Entfaltung des Wunsches nach Anerkennung durch eine Externalität, oder weniger abstrakt: Man erwartet einen externen Effekt, der einem abnimmt, dass man jemand ist.

Eigenbedarf

Es kann sich herausstellen, dass man ihr, der Anerkennung, nicht hinterherlaufen muss, da sie einen genau wegen seinem Eigenbedarf anerkennt:

“Am Ende stelle ich nicht nur fest, dass mich ein anderer schon geliebt hat, noch bevor ich ihn liebe, […] sondern vor allem, dass dieser erste Liebende schon von jeher Gott geheißen hat.” (Marion, Jean-Luc: “Das Erotische. Ein Phänomen.” (2011), Karl Aberer Verlag, §18, S. 318)

Man braucht die Erwartung eines externen Effekts der Abnahme, aber nicht notwendigerweise seine Vorschrift im Sinne eines Diktats.

Der Bogen von der Verführung bis zur Idee Gottes ist eine Vorzeichnung. Im konkreten Fall finden eigene Verläufe statt. Das Eingangszitat aus einem Artikel der Welt beschreibt einen Moment in diesem Bogen in einem Rahmen, den man in phänomenologischen Kreisen natürliche Einstellung nennt. Attraktive Dynamiken lassen sich nicht immer durchschauen.  Anziehungskräfte finden in komplexeren Settings statt, in denen sie umgeleitet, eingespannt, vermischt oder gebrochen werden, unerwidert bleiben oder im Kreis laufen, und vieles mehr. Kurz gesagt: Die Nachricht “Du bist geliebt” ist nicht selbstverständlich aber selbst zu verstehen.

Die Reduktion des Buches von Marion ist ein Projekt, den Gestalten, die man einer attraktiven Dynamik entnimmt, Logik abzugewinnen. Zur gefundenen Logik wird man ein Verhältnis einnehmen.

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