Jean-Luc Marions Buch “Das Erotische. Ein Phänomen” beschreibt das Moment der Verführung. Als Modell dient der Frauenheld Don Juan, der überraschend den ersten Schritt macht. Der andere wird angezogen. Daraus lässt sich Kapital schlagen. Einseitig: “Sie wird mich lieben, aber ich, nein, ich liebe sie nicht.”
So gesehen ist Verführung die Kunst des einseitigen Verblüffens, die den anderen dahinschmelzen lässt. Man verspricht dem anderen unsterbliches Investment, mit dem Ziel, ihn zur Hingabe zu bewegen. Die Verführung zeichnet sich dadurch aus, dass einseitig geblufft wird. Der zweite kann das voraussehen: “Ich spiele das Spiel genauso gut wie du”.
Beginnend bei der Verführung, kommt es manchmal vor, dass das Interesse nicht endet, etwa weil sich der andere nicht einfangen lässt. Man bekommt ihn nicht ganz in den Blick, und möchte außerdem nicht aufhören, es zu versuchen. Wird man vom überlegenen Verführer zum Verführten? Wie widerstehlich ist unwiderstehlich?
Marion zur Verführung:
“Ich werde einfach einen Vorschuss auf die Liebe gegeben haben, der mir mit Gewinn zurückbezahlt wird. Da der andere mir die Liebe, die ich ihm zunächst gutgeschrieben habe, am Ende unweigerlich wieder zurückzahlen wird, wird sie wieder in meinen Besitz und mein Ego zurückkehren, das dann erneut zum Zentrum des Kreises wird. […] Die Verführung will, dass man geliebt wird, ohne letztlich selbst zu lieben […] Ich verliere mich in ihr nur deshalb, damit der andere zu mir kommt und ich mich in ihm wiederfinde; oder eher noch, damit ich ihn finde, ohne dass er mich allerdings jemals wieder finden wird. […] In der Verführung bin ich es, der Lust empfindet, aber diese Lust ist eine sehr einsame.” (Marion, 2011, §18, S. 125)
Man tätigt eine initiale Investition, der andere findet sich aufgewertet und steuert – fasziniert von der vorgeblichen Anerkennung – zur Dynamik bei. Die Verführerin gibt ein beschränktes Investment zu Beginn, kann zusehen was sich ergibt und potentiell unbeschränkt profitieren, nämlich indem sie das zuströmende Investment genießt. Die Verführte profitiert zuerst, von dem proaktiven Investment, und kann potentiell unbeschränkt verlieren, die Schranken sind durch die eigenen Kapazitäten gegeben.
Handel mit Optionen
In der Ökonomie wird das Verhältnis von Gewinn und Verlust im Optionenhandel in Diagrammen dargestellt:
Die Käuferin (Long) der Call-Option steigt mit initialen Kosten (hier 10) ein. Sie bekommt dafür für eine Weile die Möglichkeit (Option), den Basiswert von der Options-Verkäuferin (Short oder Stillhalter) zu einem bestimmten Preis (hier 100) zu kaufen (Call), unabhängig vom Preis des Basiswerts zum Kaufzeitpunkt.
Die Käuferin wettet auf (bzw. befürchtet) eine sich aufheizende Dynamik. Gegeben, der Preis steigt auf 120 an, kann sie ihre Option realisieren und den Basiswert um 100 kaufen, während die Verkäuferin (Stillhalter) die Differenz zwischen aktuellem Preis (120) und Kaufpreis der Option (100) zahlen muss (also 20, wobei sie 10 vom Verkauf der Option erhalten hat). In diesem Fall erhielt die Verkäuferin zwar initiales Investment, doch verliert bei steigender Kurssteigerung unbegrenzt, während die Käuferin die zunehmende Preisdifferenz genießen kann.
Was einem in der Betrachtung des Diagramms auffällt ist, dass der Verkäuferin nicht notwendigerweise eine Verlierer-Rolle zukommt. Ein Short call zahlt sich aus, wenn der Kurs nicht übermäßig steigt oder sogar fällt. Dann streift die Verkäuferin jedes Mal den Preis jener Option ein, die die Käuferin nicht realisieren wird, oder wenn sie die Option “gegen die Verkäuferin” realisiert, dann mit Verlusten.
Was durch das Diagramm verblasst ist die Frage nach der Bestimmung des Basiswerts. Das Diagramm suggeriert, dass dieser vom Ort des Marktes mit Hilfe von Preisen bestimmt wird. In Bezug auf den Basiswert sind Optionshändler in der Metarolle. Sie wetten auf eine steigende oder sinkende Preisbildung des Basiswerts. Ihr Bezug ist nicht notwendigerweise inhaltlich, d.h. sie haben nicht immer Interesse am Basiswert, bei dem es sich um Getreide, Wetter, Unternehmensanteile usw. handelt, sondern an der Preisdifferenz dieser Werte im Lauf der Zeit.
Die Ökonomie der Verführerin ist strukturell die eines Long Calls. Die Verführerin entscheidet einseitig, ob sie die Option “gegen den Stillhalter” ausübt, oder “die Option verfallen lässt”.
Nun zu den Unterschieden: Die Verführte, diejenige, gegen die die Option ausgeübt wird, verkauft nicht einen von ihm unabhängig bestehenden Basiswert zu einem bestimmten Preis. Der Wert ist die bereichernde, absichernde, Investition in die Verführerin, ausgelöst durch Attraktion. Das Maß für diesen Wert ist kein Preis. Wie geht man mit der Frage um: Wer steigt besser aus? Einerseits kann man sich nach der Verführung betrogen fühlen, andererseits hat man keine Handhabe, um die Unverhältnismäßigkeit anzuklagen, denn die Ausblendung der Verhältnismäßigkeit gehörte zum Wert dieses “Handels”. Die Verführerin hat dies reflektiert und für sich genutzt, um bei minimalem Investment viel zu bekommen. Die Spannung liegt also darin, dass die Verführerin gibt, um irgendwann wieder zu nehmen und die Verführte gibt um zu geben. Letztere hat hinterher keine Erklärung. Indem man sich betrogen fühlt, will man nehmen, wenn es zu spät ist. Die Ent-Täuschung macht der Verführten deutlich, dass es sich von Beginn an um ein Spiel der Reziprozität gehandelt hat und dass der eigene Genuss dabei zu kurz gekommen ist.
Auch die Verführerin kann betrogen werden. Das Motto der mutmaßlich Verführten ist: “Ich spiele das Spiel genauso gut wie du.” Die ökonomische Perspektive tritt weiter in den Vordergrund. Beide Seiten setzen ihr erotisches Kapital ein, würde Catherine Hakim sagen, um etwas zu erreichen.
Die erotische Reduktion
Das Phänomen der Liebe geht jedoch weiter. Marions Buchprojekt macht einen Unterschied zwischen Verführung und erotischer Reduktion, die reine Variante der Verführung, in der die Option des Ausstiegs oder Verkaufs nicht realisiert wird. Der proaktive und asymmetrische Schritt, der bei der Verführung in Hinblick auf eine Kosten/Nutzen-Rechnung unternommen wird, ist bei der Reduktion dem Anspruch nach haltlos, und wird getriggert durch die Anziehung des anderen.
“Der erste Schritt verlangt [..] einen ständig neuen Einsatz, bei dem ich nur in dem Maße im Rennen bleibe, wie ich immer aufs Neue mein Gleichgewicht verliere; […] Entsprechend der allgemeinen Definition der phänomenologischen Reduktion kommt auch die erotische Reduktion (in ihrer radikalisierten Form des “Kann ich selbst als Erster lieben?”) letztlich nur dadurch zur Vollendung, dass sie nie aufhört, sich zu vollziehen. Das Ego wird niemals mehr das Zentrum werden; bis zum Schluss muss es sich in Hinblick auf ein immer neu zukommendes Zentrum dezentrieren, in Hinblick auf den anderen, an dem ich mich stets neu ausrichte.” (Marion, 2011, §18, S. 126)
Wohin führt das? Kann man sich beim ständigen Verlust des Gleichgewichts orientieren? Was motiviert uns zum Schritt hin zum anderen? Die Bedrohung, dass unsere Existenz sonst wertlos wäre. Descartes demonstriert, dass wir jeweils, wenn wir denken, sicher sein können, dass wir (als denkendes Ding) existieren. Das beantwortet noch nicht die Frage, wozu wir existieren. Was macht es für einen Unterschied, ob es uns gibt oder nicht? Eine Antwort auf diese Frage, die unserem Leben einen Wert gibt, kann sich das Ego nicht allein geben: Man muss daher, so Marion…
…”den absurden Ehrgeiz aufgeben, ich könnte mir selbst die dürftige Gewissheit einer bedingten Existenz in gleicher Weise garantieren wie die eines Objekts oder eines Seienden in der Welt. In meinem Fall, in meinem ganz besonderen Fall verlangt [..] Absicherung sehr viel mehr als eine Existenz, die gewiss ist, ja überhaupt viel mehr als eine Gewissheit. Sie verlangt, dass ich mich in dieser Existenz als gegen die Nichtigkeit gewappnet betrachten kann, befreit vom Verdacht der Vergeblichkeit, gefeit gegen das “Wozu?”. Um sich dieser Anforderung stellen zu können, genügt es nicht mehr die Gewissheit des Seins zu erlangen, sondern es bedarf der Antwort auf eine andere Frage – “Werde ich geliebt?” (Marion 2011, §3, S.36f)
“All you need is love”? Das ist eine Vereinfachung, die im Rahmen einer Reduktion, das heißt einer Einklammerung anderer Aspekte des Lebens, nachvollziehbar ist. In Konfrontation provoziert sie eine entgegengesetze Allaussage, die vielleicht Resentiment oder ein erfrischender erster Orientierungsschritt ist. Tatsächlich kommt Marion von der Forderung nach Liebe über die Unmöglichkeit der Selbstliebe zum Selbsthass. Dieser ist überwindbar indem man das, was man von anderen fordert, selbst tut: Zuerst zu lieben.
Sich verlieren
Mittags entschuldigt die Bedienung in der Kantine eine versalzene Pasta damit, dass der Koch verliebt war. Man verschätzt sich leicht, wenn man sich selbst verliert. Marion sieht darin eine Tugend:
Man muss es tatsächlich als eine Errungenschaft betrachten, dass die erotische Reduktion das Ego in seinem Innersten trifft, indem sie es ein für alle Mal als dasjenige verabschiedet, das sich in seiner Gewissheit und Existenz selbst hervorbringt. […] Ich trete in den Herrschaftsbereich der Liebe ein, in dem ich augenblicklich die Rolle desjenigen zugesprochen bekomme, der lieben kann, der geliebt werden kann und der glaubt, dass man ihn lieben soll – des Liebenden. (Marion 2011, §4, S.47)
Hier treffen sich die Maslow’sche Bedürfnispyramide und Marion’s Vorgängigkeit der Heteronomie: Die Fähigkeit zur Selbstverwirklichung ergibt sich im Rahmen eines Zustands, der von der Bestätigung/Widerlegung anderer geprägt ist.
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Gott ist die Liebe
Denken können auch die Tiere und die Roboter, schreibt Marion an einer Stelle. Der Mensch ist das liebende Wesen. Das hat er mit Gott gemeinsam, wird am Ende des Buches verkündet. Denn Gott liebt auf dieselbe Weise wie wir, nur dass er unendlich viel mehr liebt. Er ist es, der die erotische Reduktion durchzieht. Im doppelten Sinn: (1) Er vollzieht die erotische Reduktion voll, während wir sie mit Brüchen umsetzen. (2) Unserer Anziehungskräfte zeugen in jeder Gestalt von ihm.
Nach Joseph Pieper ist Thomas von Aquin derjenige, der das Prinzip des abendländischen Entwurfs als Erster ausspricht: “die Verknüpfung des Gewußten mit dem Geglaubten. Allerdings handelt es sich um eine gedankliche Struktur nicht bloß von äußerster Differenziertheit. Kaum ist sie verwirklicht -und schon regen sich rundum die Kräfte der Auflösung.” Pieper, Joseph (1981): Thomas von Aquin. Leben und Werk, dTV, S.125).
Auf der Bahn dieses (verführerischen) Prinzips, der “theologisch gegründeten Wirklichkeit” liegt, dass “alle Funde der natürlichen Welterkenntnis, in Astronomie, Entwicklungslehre, Biologie, Atomphysik und aller Wissenschaft sonst, von vornherein – buchstäblich: bereits vorweg! – als etwas Willkommenes und Positives begrüßt und akzeptiert werden (gar nicht zu reden von der Akzeptierung der natürlichen Realitäten des Menschlichen selbst: Politik, Eros, Technik – und so fort) und daß zugleich andererseits der Anspruch erhoben und durchgehalten wird, all dies zu verknüpfen, es nicht nur zusammenzudenken, sondern zusammenzuleben mit den Normen einer übermenschlichen und übernatürlichen Wahrheit.” (Pieper 1981, S.126)
Bahnen üben, wie Pieper sagt, eine faktische Nötigung aus. Ich würde einen Term aus der Mathematik verwenden: Eine Nebenbedingung ist eine Vorgabe, die sich aus einem Zusammenhang ergibt. Bei Marions Buchprojekt zeigt sich die Bahn der Verknüpfung des Gegebenen mit dem Geoffenbarten für das erotische Phänomen verwirklicht und thematisiert:
“[W]enn, übrigens von anderswoher [nämlich durch Offfenbarung], Gott sich mit dem Namen selbst der Liebe bezeichnet, muss man dann daraus folgern, dass Gott so liebt, wie wir lieben, mit derselben Liebe wie wir und entsprechend der einzigartigen erotischen Reduktion? Man kann freilich davor zurückscheuen, dies zu glauben, aber man kann es nicht ausschließen. […] Gott liebt im selben Sinne wie wir.
Fast, bis auf einen unendlichen Unterschied. Denn wenn Gott liebt (und er hört tatsächlich nie auf zu lieben), dann liebt er unendlich viel mehr als wir. […] Und am Ende stelle ich nicht nur fest, dass mich ein anderer schon geliebt hat, noch bevor ich ihn liebe, und dass sich folglich dieser andere schon vor mir zum Liebenden gemacht hat, sondern vor allem, dass dieser erste Liebende schon von jeher Gott geheißen hat. […] Gott überragt uns als der am meisten Liebende. (Marion 2011, §42, S.318f)
Endstation? Alles gut und abgerundet? Soweit sind wir nicht. Die Antwort auf die Frage, wozu man existiert, wird man bei aller Liebe selbst finden. Eine Antwort ist nicht verschreibbar, falls sich die Frage stellen lässt, was in Wittgensteins Traktatus am Ende (6.52-6.522) bezweifelt wird.
Thomas von Aquin schreibt nach Besuch der Messe: “Alles, was ich geschrieben habe, erscheint mir wie Stroh – verglichen mit dem, was ich geschaut habe und was mir offenbart worden ist.” Pieper ergänzt: “Und bei dieser Weigerung ist es geblieben. Das bedeutet, daß der Fragment-Charakter der “Summa theologica” mit zu ihrer Aussage gehört.”
Philo-sophie?
Für einen anderen zeitgenössischen Philsophen aus Frankreich, Alain Badiou, sind Wittgenstein und – vermutlich über das letzte Zitat – auch Thomas von Aquin Antiphilosophen:
There exists, in our experience, a sort of distance without measure […] Very often its the distance between finite and infinite or between man and god. Many great philosophers are in religious contexts. It’s the case for Pascal, Rousseau, Kierkegaard. Precisely, it’s the case for Wittgenstein. It is very important to know that Wittgenstein has finally a mystical vision of the problem of the distance. […] To produce something concerning this distance, we cannot use concepts. […] In the case of antiphilosophy we must do the thing and not only show the thing. […] In the antiphilosophy we have the necessity of a testimony of the antiphilosopher himself as a singularity. It is a practical decision. The transmission of the experience of the distance without measure is a personal transmission. […] An antiphilosopher is someone who pays the price of his proper life of the testimony for the distance without measure. It is why, when we have an antiphilosopher, we have a narrative concerning his life inside the text. For example, the relationship of Kierkegaard with the women is a constitutive part of the development of the thinking of Kierkegaard. It is really the singularity of one existence which is finally the support of the vision of the antiphilosopher.
Den Status der Liebenden kann man der Antiphilosophin im obigen Sinn aus ihrem Lebenswerk entnehmen. Die neutrale Betrachtung des Gegebenen möchte durch eine Intervention im Text bis ins Unsagbare gedehnt werden. Als ob man sich am freiwilligen Tod Gottes am Kreuz, dieser rätselhaften, maßlosen Hingebung, ein Beispiel nimmt. Nietzsche ist hin- und hergerissen:
Dieser Jesus von Nazareth, als das leibhafte Evangelium der Liebe, dieser den Armen, den Kranken, den Sündern die Seligkeit und den Sieg bringende „Erlöser“ — war er nicht gerade die Verführung in ihrer unheimlichsten und unwiderstehlichsten Form (Nietzsche, Genealogie der Moral, Erste Abhandlung, §8)
Schreibt Marion als Liebender? Unterliegt er der Verführung einer Nachfolge von Christus? Er schreibt in der ersten Person. Es handelt sich aber nicht erkennbar um eine Geschichte über seine Person, keine Darstellung des persönlichen Leidenswegs, sondern er beansprucht, stellvertretend über den Liebenden in uns zu schreiben, um auf unsere eigene Erfahrung zu verweisen:
Ich würde [..] lügen, wenn ich eine scheinbare Neutralität vortäuschen würde: Ich also, ich und niemand anders, werde von diesem erotischen Phänomen, das ich erfahre, sprechen müssen, und so, wie ich es erfahre. […] Ich werde also auf eigenes Risiko und auf eigene Gefahr ich sagen. Aber ich werde es – mein Leser, das sollst du wissen! – in deinem Namen sagen. […] Vom erotischen Phänomen wissen wir nicht dasselbe, aber wir wissen alle davon gleich viel; wir stehen alle vor ihm in einer Gleichheit, die genauso vollkommen ist wie unsere Einsamkeit. (Marion 2011, Vorwort, S.22)