Wikis. Jenseits des Papierprinzips

The Wunderblock

“What else than a natural and mighty palimpsest is the human brain? Such a palimpsest is my brain; such a palimpsest, O reader! is yours. Everlasting layers of ideas, images, feelings, have fallen upon your brain softly as light. Each succession has seemed to bury all that went before. And yet in reality not one has been extinguished.” Thomas De Quincey – Suspiria de Profundis (1845)

Inhalte in Wikis sind weder in Stein gemeißelt noch verfliegen sie wie Schall & Rauch. In einer Diskussion nahm ich den Standpunkt ein, dass diese Zwischenposition eine Stärke für den Einsatz von Wikis in Betrieben ist: Situationen ändern sich und so das Wissen zu ihrer Bewältigung. Personen in einer (Zweck-)Gemeinschaft teilen ihre Erkenntnisse, indem sie gegebene Oberflächen für ihre Zwecke anpassen.

Ein alternativer Standpunkt ist: Weil Wikis weder “Fisch noch Vogel” sind, darum sind sie kein verlässlicher Bezugspunkt in einer sich ständig ändernden Umgebung. Sie fügen sich in die Betriebsamkeit ein, anstatt ihre Komplexität durch eine Verfestigung oder Verflüchtigung zu reduzieren. Überlegen wir an einem konkreten Fall…

Dilbert arbeitet in einer Firma in der Buchhaltung und möchte seine Bilanz als PDF exportieren, mit der betriebseigenen Buchhaltungssoftware Book X. Dilbert weiß nicht wie das geht und besucht das Wiki seines Unternehmens. Das Wiki enthält Informationen für den gesuchten Zweck. Als Dilbert sie in die Tat umsetzen möchte, bemerkt er, dass die Anleitung nicht auf die Menüstruktur von Book X passt. Ein Anruf bei Maria, IT-Abteilung. Die IT-Hotline ist überlastet. 20 Minuten Wartezeit. Dann: Maria hilft Dilbert beim Speichern der Bilanz als PDF. Dilbert ist so freundlich und aktualisiert die Anleitung im Wiki, damit seine Kolleginnen sich großartige Recherchen ersparen.

Was Dilbert nicht weiß ist, dass die vorgefundene Beschreibung zu einer früheren Version von Book gehörte: Book W. Seine Kollegin Sharon – in einem anderen Gebäude – benutzt noch Book W. Sie möchte ebenfalls eine Bilanz als PDF speichern. Man kann sagen: Die Wiki-Funktion der Versionierung relativiert den Eingriff von Dilbert. Wie löst Sharon ihr Problem? Sharon müsste sich bloß frühere Versionen derselben Wiki-Seite ansehen. Sharons Zeit ist jedoch knapp. Ihre Geduld war außerdem bereits überspannt, als die Software beim Speichern abgestürzt ist und 2 Stunden Arbeit verloren gingen. Nachdem sie nicht weiß, welche der Versionen auf ihre Situation passt, wird sie ebenso Maria anrufen. Die Betriebsamkeit erlaubt kein allzu langes Stöbern in der Vergangenheit. “Each succession has seemed to bury all that went before.”

Leserinnen der obigen Situationsbeschreibung werden einwenden, dass die aktuelle Wiki-Seite sowohl die Anleitungen für Book W als auch für Book X enthalten sollte. Dilbert könnte das durch Beobachten der Versionen bemerken und anpassen. Das ist ein Vorteil eines Wikis: Sobald verschiedene Perspektiven entdeckt werden, können sie explizit gemacht werden, obwohl sie in keinem Benutzerhandbuch stehen und niemand von den Experten sich darum kümmert: “Achtung! Überprüft eure Book Version, die Schritte zum Exportieren von PDFs sind in Book X und Book Y unterschiedlich”, könnte am Beginn stehen. Die Erfahrung Einzelner wird für ein Kollektiv nutzbar gemacht und auf die Probe gestellt. Der Freiheitsgrad von Wikis im Vergleich zu statischen Dokumenten und Experten besteht darin, dass Betroffene ihre Probleme ad hoc lösen und die gesamte Gruppe länger davon profitieren kann – bzw. länger mit teils veralteten “quick fixes” belästigt wird.

Für Benutzer, die für die Zwecke der schnellen Orientierung einer Anleitung bedürfen, bedeutet gerade der Freiheitsgrad eine Schwierigkeit: Wikis sind weder so aktuell wie Auskünfte von Experten noch so verbindlich wie eng umgrenzte Dokumente. Der Freiheitsgrad erlaubt nämlich Unverbindlichkeit: Man kann unterschreiben und das Unterschriebene überschreiben. Es gibt weder (1) einen Schluss-Strich noch (2) eine flüchtige Synchronisation in einer konkreten Situation. Genauer gesagt: Man findet beides (Fixierungen und Verblassen), nur hängt die Gestaltung beider Aspekte von Interesse, Bereitschaft, und Umgebung der Beteiligten ab, während Papier irgendwann nichts Neues mehr aufnehmen kann; während Töne in einem Gespräch unweigerlich verstummen.

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