Sein vor Seiendem

arnulf-rainer

Die Tabelle weißer und schwarzer Filmkader habe ich schon in Präsentation der Präsentation zur Illustration verwendet. Zwei Bemerkungen Andreas Kirchners geben Gelegenheit, nochmals auf zurückzugreifen.

Es kostet Überwindung, eine Wiki-Seite zu löschen. Der Grund ist jedoch nicht der Mangel an Schreibfläche. Ein Wiki kann grob gesagt unbegrenzt viel Text aufnehmen. Trotzdem vermeidet man die Löschung, versucht bereits bestehende Arbeit zu erweitern und nur wenn nötig zu korrigieren.

Diese eigentümliche Scheu hängt mit mehreren Faktoren zusammen

  • Es ist immer genügend Platz vorhanden, das ist A.K’s Hinweis
  • Es ist zwecklos, die Seite verschwindet durch das Löschen nicht
  • Es ist weniger Aufwand, etwas hinzuzufügen, als zum Verschwinden zu bringen und neu zu formulieren

Diese pragmatischen Gründe kann man durch eine spekulative Überlegung ergänzen.

  • In einem Wiki liegen Ergänzung und Beseitigung eng nebeneinander.

Während der Zusatz auf einer konventionellen Schriftseite vorhandenen Raum ausnutzt, ohne an das Raumangebot zu rühren, kann ein Eingriff im Wiki alles zum Verschwinden bringen, ohne dabei den Inhalt auszulöschen. In jeder Änderung eines vorgegebenen Textes steckt die Möglichkeit, ihn auf Null zurückzusetzen.

“Ich wollte nur etwas dazu sagen und statt dessen ist alles verschwunden.” Die Sache berührt den Unterschied zwischen dem Setzen eines Anfangs und einer Folgewirkung. “Sein” eröffnet einen Raum für etwas, das erscheint. Wohin deutet dieses etwas (“Seiendes”), wenn es beseitigt wird?

Nachdem eine Wiki-Seite zunächst als eine Oberfläche präsentiert wird, konzentrieren wir uns auf diese Oberfläche. Es wird uns bei einer Bearbeitung zunächst der bestehende Text vorgelegt, und nicht ein leeres Feld. Uns wird nahegelegt, dass schon jemand Arbeit investiert hat, die zu löschen oder zu adaptieren eine Begründung erfordern.

Ein leeres Heft. Die erste Seite kann zweierlei bedeuten: eine Ermöglichung für Schreiben und Schreiben auf der Nullstufe. “Ich habe mir das Heft gekauft, um Notizen zu machen, und noch nichts hineingeschrieben.” Das Fehlen der Einträge sagt etwas inhaltlich.

Der prekäre Doppelzustand einer leeren Wiki-Seite besteht darin, dass sie einerseits als Ergebnis der Einrichtung eines Wikis gesehen werden kann. Ohne sie ist ein Wiki unbenutzbar. Zweitens aber als ein Zustand im Schreibverlauf des Wikis. Als die komplette Negation einer erreichten Stufe innerhalb der Kommunikationsumgebung. Nicht ihr Reset in die Inhaltslosigkeit, sondern das Verschwinden(-Machen) bestehender Inhalte als eine nachvollziehbare Mitteilung.

So reicht Seiendes ans Sein: Es ist ein Ganzes, das in seiner Abwesenheit von der Abwesenheit des Ganzen nicht zu unterscheiden ist. Wie der weiße Kader die Ermöglichung einer Darstellung oder die Darstellung einer Ermöglichung sein kann.

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