Wenn Du vor mir stehst und mich ansiehst…

Es gibt einen Unterschied zwischen Bricolage – als Tätigkeit von Individuen, sich in einem einschränkenden System unerwartete Möglichkeiten freizuspielen, und Bricolage – als einem System, das sich totale Freiheit auf die Fahnen schreibt.

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Anders gesagt: Was bedeutet freispielen in einem Zeitalter, wo leichtgewichtige Aggregation und Entfesselung zum System wurden? Der vorliegende Artikel stellt keine Antwort dar. Wir sehen uns ein Beispiel von Bricolage an, 40 Jahre früher, das trotz (oder wegen) einer ehrfürchtigen Verwendung des Vorgefundenen, stabilisierte Erwartungen durchkreuzt.

Der italienische Filmemacher Michelangelo Antonioni wurde in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts für 22 Tage nach China geschickt, um eine Dokumentation zu drehen. Er und sein Filmteam waren einem strengen Zeitplan ausgesetzt. Die Drehorte wurden von der kommunistischen Partei Chinas (KPC) bestimmt, die Ereignisse an den Drehorten oftmals inszeniert. Und trotzdem: Was dabei herauskam war zunächst eine Enttäuschung sowohl der westlichen als auch chinesischen Erwartungen: “Chung Kuo – Cina“, eine etwa 3-stündige Darstellung des chinesischen Alltagslebens – ohne pompöse Ausstellung einer großen, kohärenten (Miss-)Erfolgsgeschichte der Kulturrevolution.

Zu dem Film ist einiges zu sagen. Die aktuelle Ausgabe der australischen Online-Filmzeitschrift “Senses of Cinema” enthält eine ausführliche Besprechung.

Im gegenwärtigen Zusammenhang sind mir zwei Aspekte wichtig:

(1) Dem Fremden begegnen

Das Filmteam schafft es, unangekündigt in einem kleinen Dorf zu filmen. Es ist nicht zu übersehen, wie die Kamera durch ihre Präsenz die Szene verändert:

Soviel zur Neutralität. Wir kommen mit einem Interesse am Fremden an und sehen so viel Alltägliches, ja Langweiliges, das jedoch eine Fundgrube von Überraschungen bietet, die man nicht inszenieren könnte und die das Klischee einer durchorganisierten, normierten Masse herausfordert.

Im Verhalten der Personen auf die wir unsere Kamera direkt halten wird außerdem klar, dass wir selbst als Fremde erscheinen. Das Interesse scheint auf beiden Seiten zu bestehen und keiner kennt die Motivationen und Intentionen der jeweils anderen; ein Rätsel. Wir versuchen es mit dem, was wir sehen… und starren.

(2) Ensemble von Details

Der Film beginnt mit folgender Ankündigung:

We are not pretending to understand China. All we hope for is to present a large collection of faces, gestures, customs.

Anstatt die Menschen als Material für politische Machtkämpfe zu verwenden, oder zur Selbstvergewisserung der eigenen Kritikfähigkeit, begnügt man sich mit der Darstellung der alltäglichen Beschäftigungen der Bevölkerung. Daraus lässt sich unmittelbar weder ein dystopisches noch ein utopisches Szenario entnehmen. Die Menschen zur Zeit der Kulturrevolution scheinen sich trotz simplen Verhältnissen Wege zu persönlichen Vergnügungen freigespielt zu haben, so wie Antonioni’s Team, dessen Filmaktivitäten ständig beaufsichtigt wurden.

Im Kontrast zu dem, was man in der über Jahre entstandenen Mao-Biographie von Jung Chang zu lesen bekommt, stimmt die Darstellung des Alltags bei Antonioni hoffnungsvoller. Die Bevölkerung, die bei Chang hauptsächlich als manipulierte und eingeschüchterte Masse, als Statisten rund um den Übeltäter Mao dargestellt wird (siehe auch letzter Artikel), nimmt sich bei Antonioni heraus, sich selbst zu organisieren, zum Beispiel um die Schwächen einer rationierten Versorgung mit einem lokalen (und illegalen) Marktplatz auszugleichen, d.h. Dinge mit anderen zu tauschen, die man über das offizielle Verteilungssystem nicht bekommen würde.

Gegen Ende schließt Antonioni an sein Eingangsstatement an:

China has opened its doors, but it still remains a distant and largely unknown world. We’ve given it but a single glance. There is an old saying in China: “You can depict a tiger’s skin, but not his bones. You can depict people’s faces, but not their hearts.

Die Weigerung, jeden kleinsten Aspekt des Lebens auf einen Beitrag einer großflächigen Geschichte zu reduzieren, erlaubt den Zuschauerinnen, inmitten von Profanität entscheidende Gesten zu erkennen, die man mit Bezug auf die Geschichte Chinas mit ihren großen Ereignissen als irrelevant zur Seite schieben würde. Es sind Details, die das Leben erträglich und Ordnungen brüchig machen:

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Indem das Gezeigte nicht sofort kategorisiert und mit Intentionen belastet wird, bekommt es eine Chance, bedeutsam zu werden.

Damit wird man sich oft nicht begnügen. Aber es ist ein guter Start.

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