I came in like a wrecking ball

Die Überschreitung einer Grenze von einem Staat zum anderen ist in Europa eine reguläre Aktivität. Man kann als Europäerin ohne Reisepass von Wien nach Zürich fliegen, solange man nicht zu viel Wasser mitnimmt.

Bei Flügen ab 2013 wieder Flüssigkeiten im Handgepäck erlaubt

Das Hoheitsgebiet eines Landes, seine Souveränität, transformiert sich. Ein Staat ist nun eine Organisation unter vielen, die zugestimmt hat, sich an Spielregeln zu halten (durch bilaterale Abkommen, durch Verträge der Europäischen Union) und dessen Einwohnerinnen vielfältige Ziele verfolgen.

Die Homogenisierung der internationalen Rechtslage erodiert nationale Grenzen und schafft andere. Da eine Person nach Überfliegen der Staatsgrenze vergleichbaren Gesetzen unterliegt, ist die Feststellung ihrer Identität an Staatsgrenzen weniger wichtig.

Die Konsistenz des (multi)kulturellen Staates muss bei steigender Mobilität anders erreicht werden. Verhaltensanalyse und konformes Verhalten (im Rahmen zulässiger Abweichungen) sind wichtiger denn je, wenn man Individuen in der Welt nicht stabil zu Gruppen mit fixen Merkmalen zählen kann.

Die just in time Gruppenzuweisung erstickt die Tendenzen der Zugewiesenen. Grenzüberschreitungen können zwar überall und jederzeit auftreten, doch Staaten und Organisationen möchten darum- unter bestimmten Bedingungen – überall nachsehen und erschaffen für praktisch jede Abweichung ihre Cluster. Die technischen Errungenschaften helfen dabei (Scanner am Flughafen, extensive Datenanalyse bei elektronischer Kommunikation). Was manchmal zu vertiginösen und allergischen Reaktionen führt.

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Die europäische Richtung weist von der Sprengung des Rahmens durch Expansionspolitik zur Rahmung des Gesprengten durch Methoden und Abkommen: In Vielfalt geeint. Das schöne Motto der Europäischen Union soll durch drei Methoden der Entscheidungsfindung erreicht werden:

  • der Gemeinschaftsmethode der supranationalen Organe (Europäische Kommission, Rat, Parlament und Gerichtshof), das heißt: die Entscheidungen werden durch eine von den Staaten abstrahierte Ebene getroffen;
  • der intergouvermentalen Methode, das heißt: Die einzelnen Regierungen kommen durch einstimmige Aushandlung zu Entscheidungen;
  • der offenen Methode der Koordinierung, in der bei Fehlen einer Rechtsgrundlage staatenübergreifende Empfehlungen, Erfahrungen, Leitlinien, Statistiken ausgetauscht werden.

Supra-/Inter- und Transnational; diese Trinität weist auf perspektivische Grenzen und basiert ideal auf Gegenseitigkeit, da es ein Interesse an sich selbst unterschiedener Einheit gibt. Ein Staat entscheidet über Angelegenheiten anderer mit, lässt sich bei den eigenen Angelegenheiten etwas sagen, und gibt die Perspektive “die einen hier”, “die anderen da” stellenweise auf.

Das klingt nach einem reifen, ausgeklügelten Nachbarschaftsumgang.
Was braucht man mehr?
Oder: Was gibt es sonst?
(1) Intra-nationales, (2) konkrete Personen, auf die die Summe der methodisch getroffenen Entscheidungen fällt, und (3) einseitige Grenzüberschreitung.

Es ist intuitiv, zwischen dem Überfliegen einer Grenze und ihrer Zerstörung zu unterscheiden: In einem Fall bleibt die Grenze bestehen; man hat die Möglichkeit, auf die Überschreitung hinzuweisen und die Grenze wieder zu aktivieren. Im Kontrast dazu erlaubt eine Verschmelzung oder Annexion von Angrenzendem höchstens ein Nachtrauern zerstörter Grenzen wenn möglich mit Wiederaufbau.

Dagegen: Am Gebrauch von Computern zeigt sich, dass Grenzen weniger offensichtlich und zunehmend perspektivisch sind. Bereits das kognitive Vordringen auf die “andere Seite” kann destruktive Konsequenzen haben, etwa wenn es zu überraschenden , irreversiblen Wissens- und Machtasymmetrien führt; Abhöraktionen trennen Verbündete.

Grenzen sind eine Funktion von Vorstellungen und Umständen zum Schutz und zur Orientierung: Die offensichtlichen Begrenzungen von Landschaften (Flüsse, Berge, Wälder), Volksgruppen oder Geschlechter taugen momentan nicht so gut zur Unterscheidung und Lokalisierung. Unternehmen agieren grenzüberschreitend; Personen verstehen sich als Transgender; radioaktive Strahlung überschreitet mühelos Wälder sowie Staatsgrenzen.

Die Reaktion, teilweise Überreaktion, ist, innerhalb und zwischen Staaten differenziertere Kontrollen zu implementieren: Bereits das Überfliegen einer Grenze kann zur Bedrohung der “nationalen Sicherheit” werden, wenn man zu hohe Mengen an Flüssigkeit mit sich führt (die Folge des 11. September). Bereits länderübergreifende Datenübertragung ist interessant und teilweise verdächtig, wenn man einschlägige Wörter oder Dienste verwendet.

Die Mobilität von Personen und Daten erhöht die Vorgaben für deren Formatierung. Da können Flüchtlinge nicht mithalten.

Vor diesem Hintergrund des gesellschaftlichen Umbaus von Identitätschecks zu grenzüberschreitender Verhaltensanalyse springt das Pop-Video des letzten Sommers “Wrecking Ball” von Miley Cyrus in die Charts. Eine Erinnerung an stabile Mauern, ein Wunsch nach deren Überwindung, ein Bedauern vor dem Scherbenhaufen – kurz gesagt.

Es geht um eine Abfolge aus Ekstase und Resignation nach dem Versuch der durch Liebe induzierten Grenzüberschreitung. Der initiale Wunsch beim Anderen anzukommen resultiert in der Zerstörung (des Eigenen):

All I wanted was to break your walls
All you ever did was wreck me

I never meant to start a war
I just wanted you to let me in
And instead of using force
I guess I should’ve let you win

Der Wunsch auf der einen Seite überträgt sich, und kommt zurück als Tat der anderen. Was bleibt von Krieg, Kraft, und Sieg sind Ruinen; –  Worte aus dem Vokabular des Ausnahmezustands zur Übersetzung eines psychischen Zustandes.

Wie wird über das Video gesprochen? Man empört sich über die nackte Haut einer Frau; die Wörter sind jedoch wenn man die Beschwichtigungen (never meant to, just wanted to, should have) weglässt, mindestens so provokant.

Can it get any worse? Ja: Was bitte hat Miley Cyrus mit der Europäischen Union zu tun? Beim Versuch Verbindungen herzustellen überschreite ich Grenzen. Fraglich ist ob ich damit mehr zerstöre als gewinne, bzw. ob dadurch eine Lokalisierung ermöglicht wird. Risiken und Wirkungen des Fortschritts – und der Ästhetisierung.

2 thoughts on “I came in like a wrecking ball

  1. Der Blogeintrag hebt einen Kontrast hervor. Auf der einen Seite die vielgestaltige Transformation traditioneller Grenzen. Die einen sind es nicht mehr (Schengen), die anderen waren es noch nie (Besitzerinnen der Billa Kundenkarte). Und auf der anderen Seite ein Musik-Clip, der entschieden auf Mauern (und ihre Demolierung) aufbaut.

    Der Clip zieht auch eine Grenze um sich, er ist ein Exzellenz-Produkt. Produziert aus einem Guss, mit der nötigen musikalischen Resolutheit und kalkuliertem Skandalpotential. Sozusagen ein perfekter Projektantrag. Als ich Andys Text mit dem Video verglich, hatte ich Bedenken. Es stehen einander eine mehrschichtige Reflexion und ein eindimensionales, auf Effekt getrimmtes Genussprodukt gegenüber.

    Die Parodie hat alles umgeworfen. Es ist möglich, dem Meisterstück mit einfachsten Mitteln einen Platz anzuweisen; es von aussen zu begrenzen, ohne zur Kulturkritik Zuflucht zu nehmen.

    Jetzt müsste das noch jemand mit der Werbung für die Forschungsprofessur machen.

    http://www.youtube.com/watch?v=5rGUgWTAYr4

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