Im Radio Orange, Wien, lief am 25.12. 2019 in der Sendereihe “Philosophische Brocken” ein Gespräch unter Philosophinnen: “Maria, Hilfe”. Es ist in der “Philosophischen Audiothek” archiviert. Diskutiert wurden vor allem theologische und feministische Fragen. Wie sind aus heutiger Sicht die einschlägigen Bibelstellen zu verstehen? Was bedeutete die an sie anknüpfende Geschichte für das christliche Frauenbild?
Zwei Themen wurden nur am Rand gestreift. Die Romantik des Marienkults und die Trauer, welche die leidende Madonna umgibt. Der folgende kurze Bildessay deutet in diese Richtung, ohne Kitschgefahr oder Todeserfahrung eigens zu verfolgen.
Die Würmlinger Kapelle (Nikolaus Lenau)
Luftig, wie ein leichter Kahn,
Auf des Hügels grüner Welle
Schwebt sie lächelnd himmelan,
Dort die friedliche Kapelle.
Einst bei Sonnenuntergang
Schritt ich durch die öden Räume,
Priesterwort und Festgesang
Säuselten um mich wie Träume.
lächelnd himmelan
Und Marias schönes Bild
Schien vom Altar sich zu senken,
Schien in Trauer, heilig mild,
Alter Tage zu gedenken.
Rötlich kommt der Morgenschein,
Und es kehrt der Abendschimmer
Treulich bei dem Bilde ein;
Doch die Menschen kommen nimmer.
kommen nimmer
Leise werd ich hier umweht
Von geheimen, frohen Schauern,
Gleich als hätt ein fromm Gebet
Sich verspätet in den Mauern.
Scheidend grüßet hell und klar
Noch die Sonn in die Kapelle,
Und der Gräber stille Schar
Liegt so traulich vor der Schwelle.
sich verspätet
Freundlich schmiegt des Herbstes Ruh
Sich an die verlaßnen Grüfte;
Dort, dem fernen Süden zu,
Wandern Vögel durch die Lüfte.
Alles schlummert, alles schweigt,
Mancher Hügel ist versunken,
Und die Kreuze stehn geneigt
Auf den Gräbern – schlafestrunken.
ist versunken
Und der Baum im Abendwind
Läßt sein Laub zu Boden wallen,
Wie ein schlafergriffnes Kind
Läßt sein buntes Spielzeug fallen. –
Hier ist all mein Erdenleid
Wie ein trüber Duft zerflossen;
Süße Todesmüdigkeit
Hält die Seele hier umschlossen.
Echte Trauer, so heißt es in der Radiosendung, kann es nach Derrida nicht geben, weil sie schon ein Weg aus der Misere ist. Die Marienlyrik scheint diese Aussicht zu verkleben. Die leere Krippe und ihr Stroh geraten unter Wasser. Erledigt sich der Weltschmerz mit einem Aufwaschen? Ist die Romantik des Tourismusmagnets im Südtiroler Bergtal (siehe oben) eine Revanche der real existierenden traurigen Zustände?
Ist jedoch interessant, dass Maria hier in der Spätromantik eine tröstende oder sehnsuchtsvolle Figur für Männer ist! Also gar nicht mehr für Frauen wie im Neuen Testament, wo Maria meist in Frauengruppen vorkommt, getrennt von der Männergruppe der Aposteln: Bei Elisabeth vor der Geburt, selbst beim Kreuz. Und auch nicht mehr so wie im Protestantismus, der es als zu einer modern-reformierten Religion passend ansah, sich ohne Maria als “Mittlerin” persönlich an Gott zu wenden.
Ich stimme überein, dass ein modernisierungstheoretischer Rahmen erforderlich ist, um diese Verschiebungen in den historischen Geschlechter-Konstellationen in Bezug auf Maria zu analysieren. Diese trauernde Rolle Marias war offenbar auch für unglückliche, sich als Außenseiter fühlende Männer dieser späten romanischen Zeit anziehend. Aber so, als fehlte nun die ursprünglich zu dem Leiden dazugehörende “Frohe Botschaft” der Erlösung.
Michael Luhnen schreibt im Hölderlinjahrbuch 2000/2001 S.263 über Friedrich Hölderlins hymnisches Fragment “An die Madonna”:
“In dem Bemühen, die zeitweilig verlorengegangene Sprach- und Vermittlungsfähigkeit des Dichters zurückzugewinnen, um den Konflikt von Gott und Mensch als einen Ausdruck ihrer Zusammengehörigkeit erweisen zu können, erprobt das hymnische Fragment mit der Madonnenfigur ein für das dichterische Spätwerk neues und singuläres Mythologem.”