Alain Badiou: Die Wiederkehr ist die Stütze des Neuen.

Dijkstra was right — recursion should not be difficult

Ich nehme den Pass von Herbert Hrachovec auf…. Die Dynamik im Buch “Sein und Ereignis” von Alain Badiou wird oft nur oberflächlich vorgestellt, zum Teil von Badiou selbst: Status Quo, Ereignis, Bruch mit dem Status Quo, Treue zum Ereignis, Wahrheit.

Die Lektüre der christlichen Überlegungen von Michel de Certeau gaben mir in der Masterarbeit den Anlass, auch bei Badiou den Bezug zum Bestehenden klarer herauszuarbeiten. Aus taktischen, bzw. wie er es nennt “militanten” Gründen, hebt Badiou den Bruch mit dem Bestehenden stärker hervor als die Abstützung durch Teile des Bestehenden. Es folgt ein erster Vorstoß…

Die Überbetonung des Bruchs bei Badiou ist keine Identifikation mit dem Bruch, kein Manichäismus, in dem alles Alte zu verdammen und nur das Ereignis gut ist: Es gibt nichts absolut Neues. Alles Neue ist relativ zum Bestehenden.

Sie verlangen Nachweise? Die können Sie haben…

Man ist versucht, “Sein und Ereignis” so zu lesen:

  • Sein: Der status quo, die Situation, in der wir uns befinden, ist überdeterminiert. Jede Begegnung ist bereits ein Vorkommnis, das eine etablierte Interpretation mitliefert. Die Gegenwart und die Zukunft sind eine endlose Wiederholung der Vergangenheit.
  • Ereignis: Bis etwas passiert, das uns aus dem Zwang zur Wiederholung löst und uns erkennen lässt, dass das Bestehende nicht alternativlos ist: Ein Ereignis reißt uns aus dem Trott und wir stehen vor der Entscheidung, sich ihm ganz zuzuwenden (und d.h. sich vom Bestehenden abzuwenden), oder sich nicht stören zu lassen (und das Ereignis zu ignorieren).

Hat die Entscheidung für ein Ereignis zur Folge, dass man sich völlig vom Bestehenden abwendet und nur noch für das Ereignis eintritt? Badiou wäre nicht nur Apologet der Treue zum Ereignis sondern auch ein Advokat des absoluten Neuanfangs. Spoiler-Alarm: Letzteres ist er nicht.

Eine wichtige Nahtstelle zwischen dem Bestehenden und dem Entstehenden ist der Eingriff des Subjekts, das zwischen Situation und Ereignis gespalten ist. Diese Spaltung des Subjekts, und damit die Möglichkeit des Eingriffs setzt aber voraus, dass vorab in der Situation, wenn auch verblasst, Reste eines Ereignisses vorhanden sind, die dem Subjekt den Abstand zur Ideologie des Bestehenden ermöglichen:

  • Situation: Erstens ist der Träger des Subjekts ein Individuum mit Interessen, die sich durch die Situation ergeben, z.B.: Man möchte ein regelmäßiges Einkommen und überschaubare Verhältnisse beim Zusammenleben.
  • Ereignis: Zweitens gibt es kein Subjekt ohne die Hoffnung auf etwas, das die Situation überschreitet. Diese Hoffnung hängt zusammen mit etwas aus der bestehenden Situation und mit dem Ereignis.
  • Ereignis in der Situation: Damit ein Individuum von dem Ereignis Notiz nimmt und es wirksam ins Spiel des Bestehenden bringen kann, braucht es einen Abstand von der Verfassung der Situation, d.h. der vorherrschenden Ideologie über das Bestehende. Diesen erhält es durch eine Wiederkehr von einem Zustand, der für besser als der Zustand der dominierenden Ideologie des Bestehenden gehalten wird, das jedoch bis dahin verschüttet oder nicht prominent zur Kenntnis genommen wurde.
  • So gesehen wird der Eingriff eines Subjekts möglich, indem es sich zwischen zwei Ereignissen aufspannt: dem “alten Ereignis”, das Teil des Bestehenden ist, und dem “neuen Ereignis”, das erst durch den Eingriff in der Situation benannt wird, indem etwas von der vorherrschenden Ideologie Ausgeschlossenes, aufgegriffen wird.
  • Der Eingriff unterbricht (versuchsweise) die Wiederholung des Bestehenden und leitet die Wiederkehr eines bestehenden Ereignisses ein – in Form eines neuen Ereignisses.

Ist das wirklich Alain Badiou, fragen Sie sich? Ja, man kann dies gegen Ende der Meditation 20 von Sein und Ereignis, vor der Auseinandersetzung mit Pascal und dem Christentum, angekündigt als “Fundierung der Zeit”, nachlesen. Badiou fragt sich, wie der Eingriff möglich ist. Antwort: Durch ein anderes, früheres Ereignis, aus dem Konsequenzen gezogen wurden. Auf diese Anstrengungen kann man sich stützen:

“Es ist die Rekursivität des Ereignisses, die den Eingriff begründet. Oder anders gesagt: Es gibt eingreifendes Vermögen, welches für die Zugehörigkeit einer ereignishaften Vielheit zu einer Situation konstitutiv ist, nur im Netz der Folgerungen aus einer zuvor entschiedenen Zugehörigkeit. Der Eingriff ist das, was ein Ereignis als das vorgekommene eines anderen präsentiert. Es ist ein ereignishaftes Zwischen-Zwei. […] Die Zeit ist […] der Eingriff selbst, als Abstand zwischen zwei Ereignissen gedacht. Die wesentliche Geschichtlichkeit des Eingriffs […] beruht darauf, dass das eingreifende Vermögen sich von der Situation nur insofern trennt, als es sich auf die schon entschiedene Zirkulation einer ereignishaften Vielheit stützt. Allein diese Stütze, im Verbund mit dem Aufsuchen der Stätte, kann zwischen dem Eingriff und der Situation einen ausreichend großen Teil an Nichtsein einfügen, damit über das Sein selbst, als Sein […] gewettet werden kann. […]Damit es ein Ereignis gibt, ist es erforderlich, dass man sich am Punkt der Folgerungen aus einem anderen Ereignis befinden kann.”

Badiou, Alain: Das Sein und das Ereignis. Berlin: Diaphanes, 2005. S.238f

Der Eingriff autorisiert sich nicht selbst, sondern stützt sich auf Bestehendes, nicht nur in Abgrenzung zum Bestehenden, sondern positiv auf ein Ereignis, das bereits im Bestehenden zirkuliert.

Zusammengefasst: Bei allem Fokus auf den Bruch mit der herrschenden Ordnung sind letztlich die Bedingungen für einen Eingriff und in weiterer Folge einer Treue zweifach im Bestehenden verankert:
(1) durch das bereits zirkulierende frühere Ereignis, das den Ort oder die Stütze dafür bildet, um aus der (2) bestehende Ereignisstätte einen Repräsentanten zu wählen, um das Ereignis zu benennen und in der Folge mit anderen Bestandteilen der Situation zu verknüpfen. Das Neue ist nie absolut neu.

Man kann Badiou dafür kritisieren, diesen Punkt relativ unterbelichtet zu belassen im Vergleich zu den Stellen, wo der status quo kritisiert wird, andererseits können Kritiker die ihm vorwerfen, ein Ereignis nur aus der Leere zu ziehen, an diese neuraligische Stelle in “Sein und Ereignis” verwiesen werden.

Diese Überlegungen sind im Kontext von Badiou ungewohnt, jedoch nicht neu: Nach Ludwig Wittgenstein kommt beim Folgen einer Regel sowohl das schlagartige Verstehen (Ereignis) als auch das gewohnheitsmäßige Verstehen (die Bedeutung liegt im Gebrauch) zur Anwendung.

Andreas Kirchner spielt den Pass zurück an Herbert Hrachovec, der Wittgensteins Werk dazu genau gelesen hat.

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