Regelbruch im Spielverlauf

Andreas Kirchner hat eine Passage aus Alain Badious “Sein und Ereignis” hervorgehoben, die das Missverständnis korrigiert, dessen “Ereignis” träte unversehens, gänzlich ohne Vorläufer, in die Welt. Es ist, so muss man berücksichtigen, durch vorangegangene Ereignisse präfiguriert. Eine rekursive Struktur ist anzunehmen: Ereignisse setzen Ereignisse voraus. Das passt überraschend gut zu meinem Hinweis auf Befreiung in Louis Reimers Kierkegaard-Interpretation. Um sich aus einem Ungemach befreien zu können, bedarf es eines “Lichtblicks”, der dessen dunkle Totalität durchbricht.

Eine Frage habe ich noch, bevor in dieser Sache ein happy end verkündet werden kann. Wie steht es mit der Rekursionsbasis? Sie ist der Ausgangspunkt der Kette, die sich durch die festgelegten Rekursionsschritte ergibt. Hier scheint das Dilemma wiederzukehren. Ein solcher Punkt wird definitorisch angenommen. Aus ihm folgen, wie aus Axiomen, die Konsequenzen, während er seinerseits in der Luft hängt. Wie alle Psychoanalytikerinnen (m/w) eine Lehranalyse benötigen, nur Sigmund Freud nicht; er hat sich eigenhändig analysiert. Das klingt nun doch nach einem Ursprung, der produktiv ist, ohne Vorstufen zu benötigen.

Das Regelfolgen, wie Wittgenstein es beschreibt, weist tatsächlich, wie Andreas Kirchner andeutet, dieser Problemstellung verwandte Züge auf. Multiplizieren lernt eine Schülerin nur, weil Multiplizieren schon gelehrt und praktiziert worden ist. “Jetzt weiß ich, wie es geht!” ist ein Aha-Erlebnis — als Einstieg in die laufend befolgte Regel. Und auch hier kann gefragt werden, ob Henne oder Ei zuerst kamen. Hat man die Rechenregel verstanden, bevor sie angewandt wurde, oder ist sie umgekehrt aus Anwendungsfällen induktiv abstrahiert? Eine Orientierung an Wittgensteins Zugangsweise hilft weiter.

Was in diesem Kontext als Problem des Regelfolgens diskutiert wird, lässt sich im Anschluss an eine (englische) Redewendung allgemeiner fassen, als es in der Fachliteratur gewöhnlich diskutiert wird.

“you cannot move the goalposts during the game”

Diese schöne Metapher kann man in eine nüchterne Aufforderung übersetzen: “Kein Regelbruch während des Spielverlaufes!” So gesehen ist der Engführung, die Andreas Kirchner widerlegt [ref]”Hat die Entscheidung für ein Ereignis zur Folge, dass man sich völlig vom Bestehenden abwendet und nur noch für das Ereignis eintritt?”[/ref], ebenso wie der Schwierigkeit mit der Rekursion zu begegnen. In einem eingespielten Zusammenhang taucht unversehens etwas Neues auf. Die Reaktion kann unterschiedlich ausfallen.

  • Der Vorfall wird als Übertretung der Regel korrigiert und/oder bestraft.
  • Er führt, in schwerwiegenden Fällen, zum Ausschluss aus der geteilten Praxis, alternativ zum Austritt aus der Bezugsgruppe.
  • Es kann aber auch sein, dass eine Ausnahme gemacht wird. Dann hat die Regel weiterhin Bestand, in diesem Fall “verkraftet” sie zusätzlich einen Regelbruch.

Diese Optionen bieten sich an, um mit Dissonanzen im sozialen Gefüge umzugehen. Abmahnung, Ausschluss, Ausnahme. Um mit diesem Instrumentarium umzugehen, muss man nicht fragen, ob und wo der Bruch/das Neue schon in der Regel angelegt ist. Obwohl sich darüber oft hitzige Debatten entwickeln. Doch in einer weiteren Konstellation liegt Sprengkraft, die nicht auf diese Weise beizulegen ist.

  • Das Neue macht dem geregelten Zusammenhang prinzipiell die “angemaßte” Bedeutung streitig. Umgekehrt begnügt sich der status quo nicht damit, die Heterodoxie (anderswo) gewähren zu lassen, sondern bekämpft sie als vitale Bedrohung.

Das ist martialisch formuliert, aber das Vorgehen ist aus zahlreichen Situationen bekannt. Wie soll man zum Beispiel mit den Ausführungen Raik Garves umgehen, der in einem youtube Video über die “Corona Virus Hysterie” Louis Pasteur als Schwindler darstellt, der die Existenz von Viren erfunden hätte, ein Betrug, der dann mit Hilfe von Dunkelmännern aus Wissenschaft und Wirtschaft durchgesetzt worden wäre[ref]Siehe zu seiner Position die Anmerkungen auf dieser Seite.[/ref] Die resolute Stellungnahme in solchen Fällen bleibt einem nicht erspart.

Der Gestus, mit dem Alain Badiou an die Politik des Spätkapitalismus herangeht, hat etwas von der Unerbittlichkeit einer unbestreitbaren Wahrheit, die sich darin bestätigt, dass sie “am Ende” recht gehabt haben wird. Er entwickelt damit eine Option, auf die nicht verzichtet werden kann, wenn — unter bestimmten Umständen — die Grundlagen des Weltverständnisses einer Personengruppe auf dem Spiel steht. Dann zählt nicht, welche Kompromisse man schließt, sondern die Insistenz, dass einer offenbaren Wegweisung zu folgen ist. Gemessen daran, sind die Vorstufen und Folgewirkungen der Betroffenheit Hilfskonstruktionen.

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