Apologie des Handels

Wer Goethe liest, der setzt sich gezwungenermaßen mit kontingenten Lebenszielen auseinander. Bei besonders argen Fällen setzt Goethe aber noch eins drauf und verleiht auch den scheinbar unerwünschten Ansichten einen Antrieb zur Formgebung, zur bildenden Vereinigung von “Form und Sache”, der diese sogar neben der künstlerischen Formgebung immernoch gut wegkommen lässt.

Gleich am Anfang der Lehrjahre gibt es eine kleine Auseinandersetzung zwischen Wilhelm und seinem Freund Werner: die “Apologie des Handels”. Es ist in gewissem Sinn ein Glanzstück der Irritation, wie Werner seinem Freund die Welt des Kaufmanns schmackhaft machen will.

Leider siehst du nicht, mein Freund, wie Form und Sache hier nur eins ist, eins ohne das andere nicht bestehen könnte. Ordnung und Klarheit vermehrt die Lust zu sparen und zu erwerben. Ein Mensch, der übel haushält, befindet sich in der Dunkelheit sehr wohl; er mag die Posten nicht gerne zusammenrechnen, die er schuldig ist. Dagegen kann einem guten Wirte nichts angenehmer sein, als sich alle Tage die Summe seines wachsenden Glückes zu ziehen. Selbst ein Unfall, wenn er ihn verdrießlich überrascht, erschreckt ihn nicht; denn er weiß sogleich, was für erworbene Vorteile er auf die andere Waagschale zu legen hat. Ich bin überzeugt, mein lieber Freund, wenn du nur einmal einen rechten Geschmack an unsern Geschäften finden könntest, so würdest du dich überzeugen, daß manche Fähigkeiten des Geistes auch dabei ihr freies Spiel haben können.
[…]
Glaube mir, es fehlt dir nur der Anblick einer großen Tätigkeit, um dich auf immer zu dem Unsern zu machen; und wenn du zurückkommst, wirst du dich gern zu denen gesellen, die durch alle Arten von Spedition und Spekulation einen Teil des Geldes und Wohlbefindens, das in der Welt seinen notwendigen Kreislauf führt, an sich zu reißen wissen. Wirf einen Blick auf die natürlichen und künstlichen Produkte aller Weltteile, betrachte, wie sie wechselsweise zur Notdurft geworden sind! Welch eine angenehme, geistreiche Sorgfalt ist es, alles, was in dem Augenblicke am meisten gesucht wird und doch bald fehlt, bald schwer zu haben ist, zu kennen, jedem, was er verlangt, leicht und schnell zu verschaffen, sich vorsichtig in Vorrat zu setzen und den Vorteil jedes Augenblickes dieser großen Zirkulation zu genießen! Dies ist, dünkt mich, was jedem, der Kopf hat, eine große Freude machen wird.
[…]
Besuche nur erst ein paar große Handelsstädte, ein paar Häfen, und du wirst gewiß mit fortgerissen werden. Wenn du siehst, wie viele Menschen beschäftiget sind; wenn du siehst, wo so manches herkommt, wo es hingeht, so wirst du es gewiß auch mit Vergnügen durch deine Hände gehen sehen. Die geringste Ware siehst du im Zusammenhange mit dem ganzen Handel, und eben darum hältst du nichts für gering, weil alles die Zirkulation vermehrt, von welcher dein Leben seine Nahrung zieht.
[…]
Es haben die Großen dieser Welt sich der Erde bemächtiget, sie leben in Herrlichkeit und Überfluß. Der kleinste Raum unsers Weltteils ist schon in Besitz genommen, jeder Besitz befestigt, Ämter und andere bürgerliche Geschäfte tragen wenig ein; wo gibt es nun noch einen rechtmäßigeren Erwerb, eine billigere Eroberung als den Handel? Haben die Fürsten dieser Welt die Flüsse, die Wege, die Häfen in ihrer Gewalt und nehmen von dem, was durch- und vorbeigeht, einen starken Gewinn: sollen wir nicht mit Freuden die Gelegenheit ergreifen und durch unsere Tätigkeit auch Zoll von jenen Artikeln nehmen, die teils das Bedürfnis, teils der Übermut den Menschen unentbehrlich gemacht hat? Und ich kann dir versichern, wenn du nur deine dichterische Einbildungskraft anwenden wolltest, so könntest du meine Göttin als eine unüberwindliche Siegerin der deinigen kühn entgegenstellen. Sie führt freilich lieber den Ölzweig als das Schwert; Dolch und Ketten kennt sie gar nicht: aber Kronen teilet sie auch ihren Lieblingen aus, die, es sei ohne Verachtung jener gesagt, von echtem, aus der Quelle geschöpftem Golde und von Perlen glänzen, die sie aus der Tiefe des Meeres durch ihre immer geschäftigen Diener geholt hat.

Beeindruckt zeigte sich auch schon Schiller in einem Brief an Goethe (Jena, 9. Dezember 1794):

Die Apologie des Handels ist herrlich und in einem großen Sinn. Aber daß Sie neben dieser die Neigung des Haupthelden noch mit einem gewissen Ruhm behaupten konnten, ist gewiß keiner der geringsten Siege, welche die Form über die Materie errang.

One thought on “Apologie des Handels

  1. Diese Hinweise passen genau zur Argumentation des Buches, das ich gerade abschließe. Hier zwei Zitate:

    “Auf die Frage, warum dieses Buch so teuer sei, kann als Antwort kommen: ‘Die Autorin hat soeben den Nobelpreis erhalten.’ Ein Gebrauchtwagen aus dem Besitz des jetzigen Papstes erzielt einen hohen Erlös. Quantitativ messbare Tauschwerte sind in vielfacher Hinsicht mit Qualitäten verflochten, die sich der rechnerischen Erfassung auf den ersten Blick widersetzen. ‘Von Treue allein kann man sich einiges kaufen’ verkündet die Werbung einer Supermarktkette, die Teile des durch Kundenbindung und Aquisition von Planungsdaten an die Klientele als ‘Treuebonus’ zurückgibt.”

    “Interessant ist ein Effekt der Einbeziehung kognitiver Ressourcen in den ökonomischen Kalkül. Das Verfahren bewirkt nämlich nicht nur — wie die Humanisten (m/w) häufig beklagen — eine Verrechnung menschlicher Werte, sondern auch umgekehrt einen Perspektivenwechsel im Funktionszusammenhang. Wissen ist nicht nur etwas prinzipiell anderes, als Grundbesitz und Arbeitskraft, es verhält sich auch in den wirtschaftlichen Zusammenhängen, welche die moderne Ökonomie durch komplizirte Formelsysteme modelliert, auf unterschiedliche Weise.”

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