“Die Entfaltung der Vielheit aus der Einheit zu eigener, für sich existierender Wirklichkeit ist eine Manifestation der Macht der Einheit, welche die Vielheit nicht nur hervorbringt, sondern sie noch in ihrer eigenen Wirklichkeit als durch die Entfaltung getrenntes und durch die Trennung vereinzeltes Vieles bestimmt und umgreift.”
Dieser Satz stammt von Jens Halfwassen im Kontext einer Plotin-Lektüre, aus einer MP3-Collage. Soweit bin ich der Plotin-Einladung gefolgt. Doch dann bin ich abgeglitten und habe mich gefragt: Worüber wird hier gesprochen? Es geht um eine Kaskade von Entfaltungen: Absolutes, Geist, Seele, Vielheiten. Schon zu Beginn des Vortrags musste ich – sicherlich ist das der aktuellen Prüfungsvorbereitung geschuldet – an Prozesse aus der gegenwärtigen Zellbiologie denken, in denen der Lebenszyklus einer Zelle sich vollzieht:
Die “Entfaltung” (exeilixis) der in der Einheit des Geistes eingefalteten Vielheit ist das Wesen der Seele. Als Entfaltung der Einheit des Geistes in die Vielheit ist die Seele darum eine Selbstentfaltung des Geistes, und zwar seine Selbstentfaltung nach außen, in einem Anderen, das dem Geist gegenüber durch diese Entfaltung selbständige Existenz gewinnt
Eine Zelle bleibt am Leben, indem sie aus der in der DNA komprimierten Information einzelne Bausteine (Proteine) produziert. Dieser Prozess wird Exprimierung von Genen (gene expression) genannt. Der erste Schritt dieser Entfaltung erfolgt (bei Eukaryoten) im Nucleus, dem Zellkern, in dem sich die DNA in komprimierter Form befindet. Den Umständen entsprechend werden bestimmte doppelsträngige komplementäre DNA-Ketten durch bereits vorhandene Proteine aufgespalten und durch andere Proteine (Enzyme, die Polymerasen genannt werden) in einsträngige RNA-Ketten übersetzt (Translation). Es entsteht die primäre RNA.
die Seele ist “ein Bild des Geistes; so wie der ausgesprochene Gedanke (logos) ein Bild des Gedankens in der Seele ist, so ist die Seele selbst der ausgesprochene Gedanke des Geistes, die gesamte Wirksamkeit (energeia) und das Leben, das er ausströmt in die Existenz (hypostatis) eines Anderen.” Der ausgesprochene, in Sprache geäußerte Gedanke ist die sprachlich manifestierte Selbstdarstellung des reinen, unausgesprochenen, nur gedachten Gedankens; er ist dessen Selbstentfaltung nach außen in der Weise, daß der Gedanke durch den Akt seines Aussprechens eine eigene, selbständige Existenz gewinnt neben und außer seinem Gedachtsein im Denken der Seele. So ist der sprachlich geäußerte Gedanke das Außer-sich-Sein des Gedankens. Ebenso ist die Seele das Außer-sich-Sein des Geistes[…]
Die übersetzten RNA-Ketten werden gesäubert von Bereichen, die keine Protein-Information enthalten (Introns). Übrig bleibt eine RNA-Sequenz, die nur noch codierende DNA-Sequenzen enthält. Sie wird messenger RNA genannt. (mRNA). Am Anfang und am Ende wird die mRNA noch mit einem Siegel (CAP-Sequenz und Poly-A-Sequenz) versehen. Nur mit diesem Siegel ist ihnen ermöglicht, nach außen vom Nucleus in das Cytosol der Zelle zu kommen. Im Cytosol angekommen, hängen an den Membranen eines anderen Gebildes (dem Endoplasmatischen Reticulum) Protein-Komplexe (Ribosomen). Die versiegelte Sequenz wird durch diese zweiteiligen Ribosomen gezogen. Während dieses Durchzugs kommt es zum Auffädeln von Aminosäuren (Zubringer sind andere kleinere aber charakteristisch gefaltete – RNA-Sequenzen: tRNAs die genau passend zu drei Nukleotiden der RNA ein Aminosäure-Element zu den Ribosomen transportieren). Die Sequenz von Aminosäuren, die schlussendlich entsteht, ist ein selbstständiges Protein, das in der Zelle – oder im Rahmen eines Zellverbandes (Gewebes) außerhalb der Zelle – diverse Funktionen erfüllt.
So wie das Außer-sich-Sein des Gedankens in seinem Ausgesprochensein sein In-sich-Sein im Denken der Seele nicht aufhebt, so hebt auch das Außer-sich-Sein des Geistes in der Seele sein In-sich-Sein nicht auf, sondern wird von diesem erst hervorgebracht: “Man darf aber beim Geist die Wirksamkeit (energeia) nicht als aufließend denken, sondern seine innere Wirksamkeit bleibt in ihm selbst, während seine äußere Wirksamkeit als eine andere und selbständige in die Existenz tritt.”
Die messenger-RNA im Cytosol zerfällt nach einiger Zeit, je nach den vorherrschenden Bedingungen. Der Zefall kann verlangsamt werden, sodass sehr viele gleiche Proteine aus dieser mRNA hervorgehen, doch irgendwann wird sie zerfallen. Was jedoch im Rahmen des Lebenszyklus einer Zelle stabil bleibt ist die im Nukleus aufgehobene DNA. Je nach Zustand (hauptsächlich die Gesamtheit der vorhandenen Proteiene) der gesamten Zelle wird jene spezifische DNA oder aber andere DNAs translatiert und transkribiert, doch eigentlich immer vollziehen sich Protein-Synthesen parallel, sodass die Zelle immer eine Aktivität aufweist. Die selbständigen Proteine schwirren daher in und zwischen Zellen umher; durch elementare Anziehungen und Bindungen ermöglichen sie der Zelle und damit dem Nucleus ihr Fortbestehen.
Ich bin weder bei den biochemischen Prozessen der Zelle noch bei der Rekonstruktion von Plotin ein Experte, doch ein paar der Homologien sind interessant; ohne Konsequenzen ziehen zu wollen.
Mir wird ein wenig schwindlig! Auf der einen Seite philosophische Spekulationen, die ich nur den abgehärtetsten Personen zumuten würde, auf der anderen grundlegende biogenetische Informationen, die ich mit Aufmerksamkeit lese, die mir im Detail aber unzugänglich sind.
Die Spekulation kann ich im Detail durchschauen, rekonstruieren und kritisieren, die Chemie natürlich nicht. Wie steht es dann mit der Homologie? Zwei Beobachtungen:
Damit eine Homologie besteht, muss man aber auch nicht Griechisch oder Chemie können. Man sieht sie in gewisser Weise von aussen.
Und wie geht man mit diesem Befund um?
Schwindlig wird mir auch, aber eben doppelt.
Was ich homolog gefunden habe ist die Art des Zusammenspiels von Fachtermini, die erst verzögert zu unserem Erleben findet. Wenn man von aussen kommt, weiss man – ohne Abhärtung – weder beim “absoluten Geist” noch bei der “DNA”, wie sich diese Terme auf unsere Erlebnisse im Alltag beziehen sollen. Beide versprechen aber (unterschiedlich stark) das tun zu können. Wie genau diese Entfaltungen vor sich gehen, kann man erst verstehen, wenn man diesem Versprechen einen Vertrauensvorschuss gibt – und gewissermassen Experte wird.
Wie man aber mit dem Erfordernis eines doppelten Vertrauensvorschusses umgeht, ausser den Schwindel weiterzugeben, weiss ich wirklich nicht.
Vielleicht lässt man aber besser die Pferde im Stall (wie heisst das Sprichwort?) – oder bleibt bei seineM Leisten.
Mir scheint, Du hast mehr angestoßen. Nicht nur die Frage des Vertrauensvorschusses, sondern auch eine provokante inhaltliche Ähnlichkeit.
Gewisse Oberflächendarstellungen der “Geistesgeschichte” werden Deine Zitate mit Freude aufnehmen. Nach dem Muster: die evolutive Entfaltung des Lebens, die wir heutzutage chemisch analysieren, ist bereits in der Antike vorweg konzipiert worden. Plotin war noch nicht so klug wie wir, aber die Grundkonzeption der Einheit der sich-entfaltenden Bio-Noosphäre ist schon vorhanden.
Schwierig ist dabei folgendes: Es gibt eine Verbindung. Wir hätten heute keine Sprache, um chemische Formeln in der dargestellten Art verständlich zu machen, wenn wir nicht über das begriffliche Inventar verfügten, das u.a. vom Neuplatonismus kommt. Jede populäre Radiosendung greift auf Jahrhunderte alte Klischees zurück. Die sind nicht nichts. Zweitens aber liegt die Wissenschaft natürlich im Unterschied. Nur: Philosophie als “Wissenschaft” ist in der Klemme.