so und so

 

Beim Frühstück überfliege ich eine Schlagzeile:

US soldier killed for sport

Meine gesamte bisherige Lebensgeschichte steht zur Verarbeitung dieses flüchtigen Eindrucks zur Verfügung. Das Ergebnis ist als erster Gedanke: Oho, jemand hat sich einen Sport daraus gemacht, einen US-amerikanischen Soldaten zu töten. Dann beginne ich den Artikel zu lesen. Es stellt sich heraus, dass der Titel nicht passiv, sondern aktiv gemeint ist. Ein Soldat hat als Sport afghanische Zivilisten getötet.

 

Es gibt offensichtlich, trotz aller Erfahrungen seit dem Vietnamkrieg, eine subjektive Prädisposition, US-Soldaten als gut und eher als Opfer, denn als Täter zu sehen. In einer an Badiou angelehnten Terminologie, könnte man sagen, dass beim Frühstück eine inkonsistente Mannigfaltigkeit herrscht, bis sich eine Situation herauskristallisiert. Warum diese — und nicht jene? Die Frage ist unabweisbar, aber schwer zu bearbeiten.

 

Benvenuto Cellini’s Bronzeskulptur in Florenz zeigt Perseus, der das Haupt der Medusa hochhebt, die er getötet hat.

Medusa killed for power

Das weibliche Wesen ist tot, der Held und die Gorgone sehen wie Geschwister aus. Triumph und Trauer.

2 thoughts on “so und so

  1. Die Schlagzeile beherbergt den Effekt, der beim Kippen eines Kippbilds auf eine Seite entsteht. George Spencer-Brown formuliert das Kippen auf eine Seite in “Laws of Form” als Anweisung: “Draw a distinction and a universe comes into being”. Erst dann konstituieren sich referenzierbare Seiten und verhärten sich zu Objekten. Und dann gibt es die Möglichkeit zu verharren (es kondensiert) oder zu entfliehen (es verflüchtigt sich). Spencer-Browns Anweisung deckt aber das Phänomen des unwillkürlichen Kippens, der Neigung in eine Richtung, so wie es beim flüchtigen Lesen der Schlagzeile auftritt, nicht ab. Für eine anschließende Analyse und Rationalisierung passt sie besser. Man kann sich selbst dazu bringen, beide Seiten – nacheinander – zu sehen, und – auf einmal – zu wissen, dass es sich um ein Kippbild handelt.

    Ordnung und Einheit entstehen bei Spencer-Brown also durch einen arbiträren Akt der Unterscheidung, das Entstehen klarer Strukturen hängt von einer Entscheidung des Beobachters ab. Das Kommando zu unterscheiden ist anders als das Zufallen einer Unterscheidung. “Draw a Distinction” ist – so gesehen – einseitig. Wir erleben beide Modi der “Zählung-als-Eins”. Einen beim “Drüberlesen”, den anderen wenn sich beim genaueren Lesen allmählich die zugefallene Deutung verflüchtigt, umschlägt und das Wissen vom Kippbild-Charakter auftaucht.

    Alain Badiou unternimmt in “Sein und Ereignis” den heldenhaften Versuch, unter Verwendung von axiomatischen Systemen, die Schrecklichkeit der Medusa zu überwinden ohne ihr Unrecht zu tun:

    “Ich bestehe auf der Tatsache, dass die Axiomatisierung, welche die Mengenlehre betrifft, kein Kunstgriff der Darstellung, sondern eine intrinsische Notwendigkeit ist. Das Vielheit-Sein erzeugt, wenn es nur auf der natürlichen Sprache und der Anschauung beruht, eine ungeteilte Pseudo-Präsentation der Konsistenz und der Inkonsistenz, also des Seins und des Nichtseins, weil es sich selbst nicht deutlich von der Seinsannahme des Eins trennt. Das Eins und die Vielheit sind also nicht zusammen in einer “Einheit der Gegenteile”, denn das erste ist nicht, während die zweite die Form selbst jeder Seinspräsentation ist. Die Axiomatisierung ist erforderlich, damit die Vielheit, die im impliziten ihrer Zählregel belassen bleibt, ohne Begriff gefasst werden kann, das heißt ohne das Sein-des-Eins zu implizieren”. (Meditation 3)

    Kann Mannigfaltigkeit dadurch in eine “Festigkeit des Denkens” gebracht werden?

    Meine bisherige Lektüre und meine Begegnung mit axiomatischen Systemen in der Philosophie (Gödel konzipiert ein axiomatisches System zum Zwecke eines Gottesbeweises indem er offen lässt, was konkret unter “positive Eigenschaften” zu verstehen ist) lassen vermuten: Es wird – wie bei Übersetzungen – nicht ohne Brüche gehen. Der Versuch, Ontologie zu verstehen als “Präsentation der Präsentation” und Theorie über Mannigfaltigkeiten, bringt mich zu einer Assoziation und einer Frage:
    1. Eine Assoziation (Kant und Cantor): Der Versuch ähnelt einer Lehre von der Form, wie uns mannigfaltige Inhalte gegeben sind wobei diese Lehre uns erlauben soll, jeden Zugang zum Sein zu verstehen. Wir kommen zwar nicht direkt zum Sein, aber indem wir (a) allgemein fassen, wie sich das Sein zeigt (es erscheint als Mannigfaltigkeit) und (b) indem wir erklären, wie wir diese Mannigfaltigkeit in unterschiedlichen Situationen clustern und vereinheitlichen, erreichen wir den Status einer Wissenschaft vom Sein, ohne über das Sein direkt sprechen zu können. Das ist Kant, vor allem in der Transzendentalen Elementarlehre und insbesondere im transzendentalen Schematismus (KrV, B176ff). Ein Unterschied ist, dass die Einheit des Homogenisierungsprozess bei Badiou “Situationen” sind und bei Kant vernünftige Wesen. Es wird bei beiden versucht, den Vorgang, wie die Bewältigung der Vielheit vor sich geht, auf eine allgemeine Beschreibung zu bringen ohne eine Beschreibung der Vielheit zu haben. Badiou geht zurück auf Cantor und die an seine Überlegungen anschließende Axiomatisierung der Mengenlehre.

    2. Eine Frage: Wie lässt sich die Formel “Präsentation der Präsentation” verstehen? Das Präsentierte ist die Präsentation selbst. Nun ist aus dem ersten Teil meines (etwas zu lang geratenen) Kommentars ersichtlich, dass es mindestens zwei Modi des Sich-Zeigens bzw. der Präsentation gibt: Etwas kann sich als strukturiert zeigen oder man kann etwas strukturieren. Durch Axiome lässt sich eine ungeordnete Vielheit ordnen ohne sie auf den Begriff zu bringen. Man zwingt sie indirekt. Wie aber lässt sich der Modus der zugefallenen Struktur, jener Struktur die im obigen Beitrag zentral ist, durch den Einsatz eines axiomatischen Systems beschreiben? Axiomatische Systeme sind Gesetze, Gesetztes: Spencer-Browns Kommando lässt grüßen: “Es ist notwendig, dass die operierende Struktur der Ontologie die Vielheit erkennt (bzw. unterscheidet), ohne aus ihr Eins zu machen und ohne über eine Definition der Vielheit zu verfügen. Die Zählung-als-Eins muss hier vorschreiben, dass alles, worüber sie gesetzgeberisch verfügt, Vielheit von Vielheiten ist. Und sie muss dafür sorgen, dass nichts, was “anders” ist als die reine Mannigfaltigkeit – sei es die Vielheit von diesem oder jenem, die Vielheit aus Einsen oder die Form des Eins selbst -, zur Präsentation kommt, die sie strukturiert.” (Meditation 1)

    Außerdem noch: Festigkeit des Denkens, sofern sie praktiziert wird, ist selbst im Wandel. So hat etwa der Neukantianismus – glaubt man den Einschätzungen eines Professors am hiesigen Institut – übersehen, dass Geometrie, Physik, ja sogar Logik sich ändern. Wie steht es mit den Axiomen der Mengenlehre?

  2. Zur Assoziation:

    Der Vielheit liegt eine Einheit zugrund, die wir nicht mit den Ausdrucksmitteln der Vielheit ansprechen können. Ist das nicht eine simplere Beschreibung, als die Thesen über das Sein und Eine, die es nicht gibt? Wir sprechen über Operationen, Axiomatisierungen und Sich-Präsentieren, statt über “das Sein” nach dem Muster von “das Haus”. Man kann die Pfeile in der Anleitung zum Zusammenbau eines IKEA-Möbelstücks nicht als als Teil des Möbelstücks verstehen.

    Zur Frage:

    Meine “killed for pleasure” Bemerkung zielte genau darauf, dass es in diesem Fall kaum eine Axiomatik gibt, welche die Arbeit beim Übergang von der “Herkunft” des Vielen zu dessen Gegebenheit übernimmt. Am Boden verteilt liegt ein Haufen aus Brettern, Schrauben, Stahlkanten und Stangen. Sie werden von mir als Eins gezählt: ich haben einen Küchenkasten gekauft. In der Bauanleitung zeigt sich der Kasten als strukturiert. Die Einheit des Kastens ist die Operation.

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