Die Insistenz der Leere ‘in-konsistiert’ als Delokalisierung.
“Sein und Ereignis”, Meditation 6: Alain Badiou synchronisiert aristotelische Überlegungen über die Leere mit von der Mengenlehre inspirierten Überlegungen. Oben befindet sich das Ergebnis. Es ist wie wenn einer die Tonspur eines Films auf stumm stellt und eine Radiosendung darüberlegt. Das führt zu neuen Effekten bei der Rezeption: Die Leere wird vom Horror zum Attraktor. Die Argumentation von Aristoteles bleibt weitgehend gleich, mit einer radikalen Wendung: Die Leere ist kein Ort an dem nichts ist, sondern ein Un-Ort, ein einziger a-topischer Punkt, wie die leere Menge.
Kreativ und faszinierend ist das sicher. Was entsteht ist weder die textgetreue Nacherzählung des traditionellen Materials noch eine streng-formalistische Einführung in die Mengenlehre, sondern ein Hybrid, “a system that can both flow and jump”. Ein Hybridauto bringt distinkte Antriebe unter eine Haube. Die Behauptung bei Badiou: Aristoteles metaphysische Schriften und Mengenlehre passen zusammen. Aber wie?
Die eigentümliche Innovation in Meditation 6 ist die konsequente Ersetzung der aristotelischen Illustrationen aus der Erfahrung. Als ob Aristoteles das Konzept der Leere nicht richtig denken konnte, wenn er sich an Beispielen wie einen ins Wasser getauchten Holzwürfel abarbeitete und sich dazu einen “gleichgroßen Leeren” imaginierte; als ob die Verwendung physikalisch-handgreiflicher Beispiele später zum Kurzschluss zwischen einem technisch erzeugten Vakuum und dem Konzept der Leere als “Raum in dem nichts ist” verleitet hätte. Ein erhobener Zeigefinger: Schon im Grundstudium Philosophie lernt man, dass Physik bei Aristoteles auf die Gewinnung einer korrekten Definition im Rahmen eines Begriffssystems abzielt:
“Wenn man von Aristoteles lernen oder ihn gar widerlegen will, muss man das Gedankengebäude betrachten, in dem die Begriffe und ihre Definitionen funktionieren. Die Leere ist für den Griechen keine experimentell erfahrbare Differenz, sondern eine ontologische Kategorie, eine Annahme bezüglich dessen, was sich in natürlicher Weise als Figuren des Seins entfaltet.” (Badiou)
Dazu weht uns ein Hauch von Heidegger entgegen: Wir müssen den Griechen nach-denken anstatt an den modernen technisch-wissenschaftlichen Errungenschaften anzuschließen. Nur ein Hauch Heidegger. Badiou entwickelt keine “Ontologie der Präsenz”: Wir müssen den Griechen nach-denken und an modernen formal-mathematischen Errungenschaften anschließen. Wenn man Aristoteles ernst nimmt, nimmt man Strukturen zu Hilfe, um die exakten Bedingungen anzugeben, unter denen sich das Unstrukturierte entzieht. Obwohl sich keine Struktur des Seins-als-Seins denken lässt, ist das Projekt einer materialistisch gewendeten Ontologie: zu sagen, was sich sagen lässt, und zwar: es genau zu sagen, ohne Appell an die Intuition, ohne einer flüsternden Stimme “Du weißt es doch immer schon, es ist dein Eigenstes (glaub mir)!” auszukommen. Die von Aristoteles herangezogenen Beispiele aus der Erfahrung mit Naturexperimenten werden ersetzt durch Beispiele aus der Erfahrung mit deduktiven Systemen.
Ontologie als strukturierte Lehre des Unstrukturierten und dessen Strukturierendem. Eine Lehre impliziert, dass das Gesagte etwas vermittelt. Bei aller Liebe zu den verstehbaren Einzelheiten im Detail (und zu Formulierungen mit Tiefenstruktur): Wenn die Auseinandersetzungen komprimiert-geheimnisvolle Komplexe wie “Die Insistenz der Leere ‘in-konsistiert’ als Delokalisierung.”ergeben, sind sie gerade mal einem eingeschworenen intellektuellen Kreis oder Geduldsamen zugänglich. Wir hätten also gleich bei Heidegger stehenbleiben können. Die Herausforderung für eine hybride Hybris, also einer Tätigkeit die Verschiedenes unverschämt zusammenstellt, ist durchdachte Komplexitätsreduktion. An diesem Punkt liegt noch Arbeit vor uns.
Das ist die faszinierende Irritation mit Badiou: er thematisiert das Ganze, das es nicht gibt, und macht daraus keine negative Theologie, sondern das inkonsistente Universum Cantors. Und anschließend betrachtet er nach Zermelo Fraenkel sozusagen gesittete Mengen, Mannigfaltigkeiten, die als Eins gezählt werden. Zwischen den beiden Ebenen ist nichts Geheimnisvolles, sondern einfach der Übergang vom sprachlogisch Unzugänglichen zu Strukturen.
Wittgenstein hat das im Tractatus auch gemacht. Die Bedingungen des sinnvollen Redens in der Welt können nicht unter diesen Bedingungen verhandelt werden. Wo er Schweigen verordnet, jongliert Badiou mit “puren Mannigfaltigkeiten”.
Wie Andreas sagt: der Sachverhalt wird heideggerianisch aufgemotzt. Die “De-lokalisierung” ist das Verlassen des Denkraums der Konsistenz; die Leere ist eine Folgeerscheinung der Grenzziehung. In dem Moment, in dem irgendwo “Stop!” gesagt wird, ist Anlass zur Frage “Warum?”.