Planlose Mannigfaltigkeit. Ein Testbericht

“Was ist das?” —

“Keine Ahnung.” —

“Möchtest Du es wissen?” “Es ist ein Foto”. —

“Und was stellt es dar?”

An dieser Szene lassen sich wesentliche Merkmale des Umgangs mit Unbekanntem ablesen. Und sie hilft zum Verständnis der Frage, was es nach Alain Badiou mit “dem Sein” auf sich hat.

Hermeneutik

Ein unverständliches Stück Welt aus Farben und Formen erweckt Aufmerksamkeit — und vergrault sie gleichzeitig. Mit ihm ist nichts anzufangen. Viele Weltbestandteile sind so, doch dieser hat etwas Besonderes zu bieten. Er ist das Viereck einer Kameraaufnahme. Obwohl es nichtssagende Ablagerungen sind, hat jemand sich um sie gekümmert. Das ist zumindest ein Anknüpfungspunkt. Der Versuch ist erlaubt, mit dem Durcheinander dennoch etwas anzufangen.

Die damit beginnende Geschichte hat mehrere Etappen. Die erste ist das Unverständnis, die zweite ein Deutungsangebot (Photo) und die dritte beginnt mit der Aussicht, Sinn zu finden. Entscheidend ist der Schritt, in dem sich herausstellt: eine bedeutungslose Konfiguration ist in einem Rahmen festgehalten worden. Was immer dieses Bild besagen soll, hier muss die Auslegung ansetzen. An dieser Stelle mutiert Unsinn in möglichen Sinn. Wie kann das sein? Farbsedimente , für sich betrachtet, sind unbedeutend.

Diese Bedeutungslosigkeit ist das genaue Gegenstück zur Ratlosigkeit im ersten Schritt. Die Unfähigkeit, etwas mit der Vorgabe anzufangen, und die materielle Stumpfheit dieser Vorgabe ihrerseits, blockieren einander. Die Pointe der kleinen Szene liegt darin, dass sie dabei nicht stehenbleibt. Das Foto befördert den Weltausschnitt in einen Verstehenshorizont. “Es ist das Detail einer vergammelten Hauswand.” Die Auskunft macht den “ehemals” opaken Weltausschnitt bedeutsam. Sie adoptiert ihn sozusagen in eine Diskursgemeinschaft. Adoptierte befanden sich ausserhalb und gerieten in eine Familie hinein. Sie erzeugt retroaktiv, im Rückgriff auf eine Vorgeschichte, neue Familienmitglieder.

Ontologie

Ontologie erhöht den Einsatz. Sie beschäftigt sich damit, was sämtliche Weltausschnitte sind. Der Fachausdruck für ihren Untersuchungsgegenstand ist “alles Seiende”, egal wie es daherkommt. Keine Farben, Formen und Gewichte, sondern der abstrahierte Hinblick darauf, was es überhaupt gibt. Die erste Reaktion auf diese Zumutung entspricht dem Achselzucken angesichts des Fotos. “Was ist das alles?” — “Keine Ahnung.”

Der zweite Schritt erzeugt einen Angelpunkt zwischen diesem “Kannitverstan” und der Aussicht auf Erklärung. Er gleicht dem Hinweis auf die Kamera. “Die Weltausschnitte gib es nicht nur so, sie sind im Nachdenken zu einer Totalität zusammengefasst.” Nochmal im Fachjargon: “ihnen allen kommt Sein zu”. Was immer in der Welt auftritt, können wir zum Seienden zählen. Am Beispiel des Fotos ist das gut vorstellbar, doch ontologisch hat es seine Tücken. Was ist unter diesem “Sein”, das keinerlei weltliche Eigentümlichkeiten aufweisen kann, zu denken?

Die Abhandlungen darüber füllen Bibliotheken. Eine Standardantwort lautet: Jedwedes Seiende ist eins. Es muss in seiner singulären Besonderheit von anderen Seienden unterscheidbar sein. Dieser Beitrag der Ontologie wird dann, so war es auch beim Foto, auf den ersten Schritt zurückprojiziert. Dort waren es willkürliche Sedimente, die als Schnappschuss sinnvoll werden konnten. Beim “Sein” wird oft ebenso sinnstiftend vorgegangen. Wenn jedes Seiende eins ist, legt es sich nahe, Sein selbst als übergeordneten Zusammenhalt von Allem zu verstehen. Es ist dann, retroaktiv betrachtet, der Grund dafür, dass jedes Seiende sich identifizieren lässt.

An diesem Punkt passt allerdings das Beispiel des Fotos nicht mehr. Es zeigt ein Durcheinander, kein Prinzip der Vereinigung. Dabei orientiert es sich am Gegenzug zur gebräuchlichen Ontologie, den Badiou vorgeschlagen hat. Sein ist, in dieser Umkehrung, planlose Mannigfaltigkeit, bevor die ordnende Kraft der Begriffsbildung Mengen jeder Art erzeugt. Badious retroaktive Charakteristik des Vorbereichs für Ordnungen innerhalb des Seienden ist eine unzusammenhängende Vielfalt; ein Farb- und Formgestöber, wenn man sich darunter etwas vorstellen könnte. Welt ist nicht, wie in der klassischen Ontologie, abkünftig von einer Ordnung aller Ordnungen, sie besteht aus Situationen auf der Grundlage einer Grundlage, die keine ist: Verstreuung. Badious Fassung des Seins ist Unterhöhlung, nicht Überhöhung des Philosophiekonstrukts “Sein”.

Testergebnis

Alain Badiou adressiert die Seinsfrage. Er übernimmt die reflexive Wendung, mit welcher die Ontologie das Insgesamt der Bestandteile der Welt zu fassen sucht. Dabei verkehrt er die Tendenz, Sein als die ultimative Garantie für Kohärenz aufzufassen, und betrachtet es als bodenlosen Ort, aus dessen Planlosigkeit sich Inseln der Organisation herauskristallisieren. Dem Sein als Fülle, Gott und Licht stellt er das Sein als ungeregeltes Durcheinander entgegen. Seine Welt besteht aus Situationen, die in sich stimmig sind, doch ohne schützenden Horizont auskommen müssen. Die Aussicht über das Universum der Stimmigkeit hinaus ist nicht verboten, aber von ihr ist nichts zu erwarten. Der Welt, so wie sie eingerichtet ist, fehlt die Möglichkeit, auf Beiträge von Seiten des Seins zurückzugreifen. Es sei denn, es schlägt der Blitz ein; aber das ist eine andere Szene.

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