Warum studierst du?
Es gibt unterschiedliche Antworten, die man als Studierender darauf geben kann. Die meisten schließen sich nicht gegenseitig aus; oft muss man aber für sich selbst Prioritäten setzen, da man nur begrenzte Zeit zur Verfügung hat.
Mit den Protesten haben wir uns Zeit genommen, über Form und Bedingungen nachzudenken, unter denen wir studieren und studieren wollen – und stetig ergeben sich neue Aspekte. Es folgen ein paar Gedanken darüber, welche Debatte man dadurch induzieren könnte und in welcher Form sie sich bereits jetzt abzeichnet. Daraus ergibt sich, warum dieser Protest keine Blockade sondern ein integraler Teil des Studiums ist. (= Gedanken zum bundesweiten Aktionstag und eine Replik auf “Studieren statt Blockieren”)
Also. Warum studieren? Einige mögliche Antworten:
- Um mir Fähigkeiten anzulernen, mit denen ich im Leben etwas anfangen kann.
- Um im Arbeitsmarkt mit einer konkurrenzfähigen Ausgangsposition zu glänzen und mit einem hohen Grundlohn zu starten.
- Um mich selbständig zu machen. Ich bekomme jene Kenntnisse, die mir helfen, meine Ideen umzusetzen und am freien Markt zu bestehen.
- Um einen Überblick über Methoden, Grundlagen, Anwendungsmöglichkeiten von bestimmten Disziplinen zu bekommen, der mir die Welt & Gesellschaft, in der wir leben besser zu verstehen hilft.
- Um eine wissenschaftliche Laufbahn (in einer Uni oder einem anderen Forschungszentrum) anzutreten und den Wissensstand der Disziplin(en) zu erweitern.
- Um mich selbst und mein Umfeld besser zu verstehen. Dadurch vergrößert sich mein Handlungsspielraum und die Anzahl der Möglichkeiten, mir selbst und anderen zu helfen.
Ich kann einigen dieser (und anderer Gründe) etwas abgewinnen, möchte sie aber nicht bewerten, da ich auf etwas anderes hinausmöchte.
Ich hätte jetzt gerne eine gemeinsame Sicht der nationalen und europäischen Bildungspolitik dargestellt, habe dann aber recherchiert und ein Papier vom Europäischen Rat gefunden: Über die konkreten und künftigen Ziele der Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung (2001), in dem folgende allgemeine Ziele, die die Gesellschaft von Bildung fordert, festgehalten werden:
- die Entwicklung des Einzelnen, damit dieser seine Anlagen voll entfalten und ein erfülltes Leben führen kann,
- die Entwicklung der Gesellschaft, insbesondere durch Förderung der Demokratie, Verringerung der Ungleichheiten zwischen Einzelnen und zwischen Gruppen sowie Förderung der kulturellen Vielfalt,
- die Entwicklung der Wirtschaft, indem sichergestellt wird, dass die Fähigkeiten der Arbeitskräfte der wirtschaftlichen und technologischen Entwicklung entsprechen.
Auf dieser allgemeinen Ebene decken sich die ersten beiden Ziele mit den Forderungen der Protestbewegung, nur im dritten Ziel scheint es in der Protestbewegung einen Dreh zu geben; es wird (zurecht) betont, dass sich die Universität nicht von ökonomischer Logik vereinnahmen lassen soll, wobei sie sehr wohl einen wertvollen Beitrag für die Wirtschaft liefert (qualifizierte Personen, neue Ansätze) und mit ihr zusammenarbeiten kann.
Seitdem wir Studierenden die öffentliche Aufmerksamkeit auf uns gezogen haben, stellt die Universitätsleitung sich auf unsere Seite, solange es sich um die abstrakte Forderung “mehr Geld” handelt. Das läuft alles in einer ökonomischen Logik ab. Nicht vergessen werden darf jedoch die wichtige Tatsache, dass die Qualität der Lehre und die Art und Weise des Studierens (und Forschens) in prominenten Fällen als untragbar empfunden wird. Geld ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung, diese Unzulänglichkeiten zu beheben.
Natürlich freuen wir uns auf Solidarisierungen, doch wenn sich die Solidarisierung ausschließlich um die Forderung “Ausfinanzierung der Unis” dreht, bleibt der Kern des Unmuts unberührt. Und dieser Kern ist für mich, dass es einen gesellschaftlichen, international geführten Diskurs darüber braucht, was wir unter Bildung verstehen wollen, in einer Gesellschaft, dessen Komplexität dazu führt, dass wir nicht überall Expertinnen sein können. Was folgt aus diesem Erfordernis, dass man als Expertin auch im eigenen Fachbereich vor Probleme gestoßen ist, die so vielschichtig sind, dass sie auch Kenntnisse anderer Disziplinen oder gänzlich neue Perspektiven erfordern?
Kooperation und Teamwork! Ein wesentlicher Kern des Studiums soll sich genau darum drehen: Komplexe Situationen in Zusammenarbeit zu bewältigen, unterschiedlichste Sichtweisen und Ansatzpunkte kennenlernen, diese zu prüfen und hinsichtlich ihrer Auswirkungen und Nebeneffekten zu bewerten. Welche Universitätsstruktur wird diesen Anforderungen gerecht? Das Schlimmste, was einer Universität passieren kann ist, dass die Studierenden soweit eingeschränkt werden, dass die Komplexität ohne Mitbestimmung der Studierenden auf lineare Abläufe heruntergebrochen wird, in der man diese Erfahrungen nicht mehr machen kann. Doch auch die Lehrenden brauchen Gestaltungsmöglichkeiten in Forschung und Lehre.
Chaos und Komplexität sind jedoch zwei unterschiedliche Dinge und darum halte ich es für sinnvoll, dass Studienpläne durchaus mit Kommentaren und Empfehlungen angereichert werden (z.B. was die Reihenfolge betrifft). Das dürfen jedoch erstens keine Zwangsmaßnahmen sein und zweitens reicht es nicht, diese Empfehlungen nur durch die Lehrenden erarbeiten zu lassen. Jede Studentin soll hierbei mitreden können, auch wenn sie noch keine Expertin in diesem Fach ist. Ebenso verhält es sich bei den Erweiterungscurricula, die ich für eine gute Idee halte, jedoch sollten Studierende selbst Modulkonstellationen vorschlagen können (ähnlich wie ganze Individuelle Studien beantragt werden können – nur mit weniger bürokratischem Aufwand). Die technischen Möglichkeiten sind gegeben, um eine solche Mitbestimmung in relativ niedrigem Administrationsaufwand und Platzbedarf umzusetzen und trotzdem die Kosten im Blick zu behalten. Eine Konsequenz könnte sein, dass Studierende sich untereinander koordinieren müssen, welche Erweiterungscurricula sie vorschlagen, da aus wissenschaftlichen Gründen nur argumentierte Vorschläge und aus Kostengründen nur jene mit einer Mindestzahl an Interessenten akzeptiert werden können. Und bei Grundlagen-Lehrveranstaltungen kann man mit Audio-/Video Streams sowie Diskussionsforen oder Wikis den überfüllten Hörsälen vorbeugen.
Da die Frage: “Was wird künftig in einer Disziplin wichtig sein?” nicht ausschließlich von Expertinnen beantwortbar ist, sollte auch die Entwicklung der Studienpläne unter massiver Einbindung der Studierenden stattfinden. Wir sind nicht mehr in der Situation, in der wenige (Genies) die ultimativen Lösungen ausarbeiten und diese dann Top-Down appliziert werden, falls es jemals solche Gesellschaften gab.
Wir – und die Organisation unserer Protestbewegung gibt vielleicht eine kleine Vorahnung davon – sind in der Situation von gleichgestellten Peers, die durch ihre jeweilige Sicht und ihr Engagement gemeinsam an den Problemen arbeiten.
Erst im Rahmen dieser Debatte haben wir uns Zeit und Umstände geschaffen, um uns über Strukturen zu unterhalten, die daraus folgen. Und das ist ein wichtiger Teil des Studiums. Deswegen haben die Proteste nicht den Charakter einer Blockade, sondern den einer Beförderung des Studiums.
Darauf aufbauend kann man als europäische Gemeinschaft Detailfragen um die akademischen Grade Bachelor und Master diskutieren, anstatt sie Top-Down durchzusetzen. Die Debatte, die wir führen werden, ist eine große Gelegenheit für die europäische Bevölkerung, zusammenzuwachsen und gemeinsam – mit internationalen Kooperationen – zu überlegen, wie wir in einer Wissensgesellschaft leben wollen. Dies geht über die Frage nach Bildung hinaus gestaltet sich so, dass Vertreterinnen mehr eine assistierend-/vermittelnde anstatt einer zentralen Rolle spielen. Denn es geht zunächst nicht um Ausverhandlungen und Interessenskonflikte sondern um Orientierung und Verständigung.
Die Zukunft ist selbst für Expertinnen ungewiss und darum eine Sache der Allgemeinheit.