Habe heute in der Vorlesung “Das Subjekt nach dem ‘Tod des Subjekts'” eine Hinführung zu den Termen Situation, Ereignis, Ereignisstätte, Wahrheit in Badious Philosophie (“Das Sein und das Ereignis” und andere Werke) erlebt.
Dadurch kann man vielleicht (aktuelle) politische oder wissenschaftliche Vorgänge auf andere Weise sehen. Das folgende als potentieller Impuls.
Wenn man akzeptiert, dass die Mathematik das Denken des Seins als Sein ist, das zu seinem eigenen Denken kommt, wenn Existenzentscheidungen, die eine Orientierung vorschreibt, im Spiel sind, welches ist dann das eigene Feld der Philosophie? (Badiou: Kurze Abhandlung über eine Ontologie des Übergangs. Wien: 2002,S.55)
Mathematik wird also dadurch charakterisiert, dass es sich um den Versuch handelt, alles mit den Mitteln von Mengen und Elementen zu beschreiben. Dabei werden Einheiten (er nennt sie “Situationen”) konstruiert, die aus Elementen bestehen, wobei die Elemente selbst so eine Art von Einheit sind, und man bis zum Unendlichen gehen könnte; Badiou scheint jedoch – soweit ich das in der Vorlesung mitbekommen habe – zu sagen, dass es ein Ende gibt, nämlich die leere Menge, von der die Einheiten gebildet werden. (Dass das mit der Mengenlehre kompatibel ist, würde ich bestreiten)
Diesen Vorgang der Konstruktion von Einheiten nennt er “Zählung-als-Eins”, da die Einheit nicht wirklich da ist, sondern als Einheit genommen wird. Über etwas ähnliches habe ich im Zusammenhang mit Platon schonmal hier nachgedacht.
Badiou meint, dass Philosohpie die Gleichung “Ontologie = Mathematik” aussprechen und legitimieren muss und sich daraus die Frage ergibt, was sich der ontologischen Bestimmung entzieht. “Die Frage nach dem, was nicht das Sein als Sein ist. […] Diesen Punkt habe ich das Ereignis (événement) genannt.” (Badiou: Kurze Abhandlung über eine Ontologie des Übergangs. Wien: 2002,S.56f)
Er kommt dann zu einem – sagen wir interessanten – Begriff der Wahrheit: “[…]wenn ein Ereignis stattgefunden hat [und ein Ereignis ist eine Störung der Ordnung der Einheit] und wenn die Wahrheit darin besteht, es zu bekennen und ihm dann treu zu bleiben, dann folgen daraus zwei Konsequenzen.”
- “Wenn, einmal, die Wahrheit ereignishaft ist oder der Ordnung dessen angehört, was geschieht, dann ist sie singulär. Sie ist weder struktural noch axiomatisch noch legal. Keine vorhandene Allgemeinheit kann von ihr Rechenschaft geben oder das Subjekt, das sich auf sie beruft, strukturieren. Es kann also kein Gesetz der Wahrheit geben.”
- “Da, weiter, die Wahrheit sich ausgehend von einem Bekenntnis, von essentiell subjektivem Charakter einschreibt, wird sie von keiner bereits konstituierten Teilmenge gestützt, verleiht nichts Kommunitäres oder historisch Etabliertes ihrem Prozess eine Substanz. Die Wahrheit ist im Hinblick auf alle kommunitären Teilmengen diagonal; sie autorisiert sich durch keine Identität, und (dieser Punkt ist offenkundig der delikateste) sie konstituiert auch keine. Sie ist allen angeboten oder für jeden bestimmt, ohne dass irgend eine vorausgesetzte Zugehörigkeit dieses Angebot oder diese Bestimmung einschränken könnte. […] Es ist eine Wahrheit als singuläre Universalität.” (Badiou: Paulus. Die Begründung des Universalismus, München: 2002, S.28f)
“Die Wahrheit ist ganz und gar subjektiv (sie gehört der Ordnung des Bekenntnisses an, das eine das Ereignis betreffende Überzeugung ausdrückt).”
Ich lasse die Erläuterung seines Wahrheitsbegriffs mal so stehen und wende mich dem zu, was Badiou die Subjektwerdung nennt. Er unterscheidet zwischen drei Typen der Subjektwerdung, die alle in einer bestimmten Stellung zum Ereignis stehen, ohne dem sie – so Badiou – kein Subjekt sein könnten: Das treue, das reaktionäre und das obskure Subjekt.
- Er nennt jene, die als Stellvertreter des Ereignisses auftreten und sich nicht davon abbringen lassen, die treuen Subjekte. Sie benennen das Ereignis (d.i. eine sprachliche Inntervention), sie lassen sich nicht einfach so davon abbringen, dass dieses Ereignis stattgefunden hat und dadurch wird – wenn es ein Ereignis war – die herrschende Ordnung verändert (und es ward niemals wieder, wie es vorher war, man wird im Rahmen dieser Situation dazu Stellung beziehen müssen).
- Dann spricht er vom reaktiven Subjekt, das zwar “die Wirksamkeit des Ereignisses [leugnet], da es behauptet, dass die frühere Welt als solche andauern kann und muss” – diese Leugnung aber führt zu einer “unüberwindbaren Distanz zwischen sich selbst und der neuen politischen Gegenwart” und dadurch macht sie am stärksten deutlich, DASS da etwas passiert ist. Dieses Subjekt “hält den Schein der Kontinuität durch die Ausbildung einer neuen Distanz zur Gegenwart des Wahren aufrecht.” (Badiou: Zweites Manifest für die Philosophie. Wien: 2009, S.87f)
- Der Vollständigkeit wegen noch der dritte Typ: “Das obskure Subjekt will den Tod des neuen Körpers […] Um der Präsenz der neuen Gegenwart ein Ende zu bereiten, muss die vollständige Zerstörung des Wahrheitskörpers vergegenwärtigt werden und daher das treue Subjekt als Ausrichtung des neuen Körpers in all seinen Formen liquidiert werden. […] Dafür muss der Körper […] wesenhaft und nicht ereignishaft sein: eine Rasse, eine Kultur, eine Nation oder ein Gott. […] Das obskure Subjekt macht das gegenwärtig, was – seiner Meinung nach – schon immer da war.” Badiou bringt das im Kontext mit dem Faschismus und des Nazi-Regimes, und charakterisiert den Körper dieses Subjekts als fiktiv: “Da der Körper des obskuren Subjektes im Unterschied zum Wahrheitsköprer, der die Folgen der Wirklichkeit des Ereignisses entfaltet, fiktiv ist, bezieht er seine scheinbare Gegenwart nur aus der Zerstörung seines Gegensppielers. Die arische Ewigkeit existiert nur für die Zeit der Vernichtung der Juden (was erklärt, dass sich die Nazis darum bis zur letzten Sekunde ihrer Existenz bemühen).” (Badiou: Zweites Manifest für die Philosophie. Wien: 2009, S.88-90)
Zum Abschluss noch einmal zum Wahrheitsbegriff:
Im Grunde ist eine Wahrheit die materielle Spur des ereignishaften Zusatzes in der Situation. Sie ist also ein immanenter Bruch. “Immanent”, weil eine Wahrheit in der situation auftritt (fr. procède) und nirgendwo sonst. Es gibt keinen Himmel der Wahrheiten. “Bruch”, weil das, was das Auftreten der Wahrheit – das Ereignis – möglich macht, weder in den Gewohnheiten der Situation lag, noch sich durch die etablierten Kenntnisse denken ließ. (Badiou: Ethik. Versuch über das Bewusstsein des Bösen, Wien:2003, S.63f.)
Wahrheit hat also etwas mit Sprüngen zu tun. Bei Bateson ist das auch im Informationsbegriff angedeutet: Information ist ein Unterschied, der einen Unterschied macht. Nicht jede Änderung eines Bits macht für jemanden in jeder Situation einen Unterschied.