In der vierten Meditation von “Sein und Ereignis” erklärt Badiou, wie herkömmliche Situationen ablaufen und dass alles gezählt und strukturiert wird. Was nicht gezählt wird, ist nicht fassbar. Alles muss unter eine strukturierte Einheit gezählt werden. Wenn er dann sagt, dass dies, was man bei den herkömmlichen Situationen findet, genau die Umkehrung seiner Ausgangsthesen (z.B. das Eins ist nicht) ist, macht er für seine Situation einen Unterschied. Es ist ein Grenzfall, quasi eine Diagonalisierung (wenn wir schon bei Cantor sind), um zu zeigen, dass die Blickrichtung üblicher Situationen so strukturiert ist, dass das, worum es geht, nicht gefasst werden kann: die Mannigfaltigkeit. Sie ist deswegen wichtig, weil alle Situationen mit ihr umgehen, sich ihrer – jedoch inadäquat – zu bemächtigen suchen. Das was sie tun ist zwar gültig, aber nicht wahr, denn sie berücksichtigen ihre eigenen Umstände nicht.
Im Anschluss erklärt er, warum der Unterschied wichtig ist und kommt auf ein dialektisches Argument Hegel’scher Art, wenn ich es wagen darf, das bei meiner bescheidenen Kenntnis dieses Philosophen zu sagen:
“[1] Wenn in der Immanenz einer Situation die Inkonsistenz nicht bewahrheitet wird, so bleibt trotzdem die Tatsache bestehen, dass die Zählung-als-Eins – weil sie eine Operation ist – anzeigt, dass das Eins ein Resultat ist. [2] Damit das Eins jedoch resultiert, muss es “etwas” in der Vielheit geben, das nicht absolut mit dem Resultat zusammenfällt. [3] Zwar kann kein Voranstehendes der Vielheit zur Präsentation kommen, da diese immer schon strukturiert ist, so dass es nur das Eins oder die konsistente Vielheit gibt. [4] Aber dieses “Es gibt” hinterlässt den Rest, dass das Gesetz, in dem es entfaltet wird, als Operation erkennbar bleibt.“
Ich kann es von Gotthard Günther her verstehen, der auf einen Reflexionsrest bei All-Aussagen hinweist.
“Wir sagen also kurz und bündig: alles Wirkliche entspringt aus jener Einheit des absoluten, in sich selbst ruhenden Seins. Aber mit diesem Ausspruch verstricken wir uns in eine unlösbare Schwierigkeit. Denn wann auch „Alles“ als Manifestation und Resultat dieser Einheit verstanden werden kann, so ist zumindest ein Datum unseres philosophischen Bewusstseins davon ausgenommen, nämlich der Satz, in dem wir die metaphysische Identität von Denken und Sein konstatieren. Dies ist alles andere als ein dialektischer Trick. Wir haben hier nur in philosophischer Sprache einen Grundsatz der formalen Logik ausgesprochen, der allen Logikern, die mit dem symbolischen Kalkül vertraut sind, seit langem geläufig ist. Dieser Grundsatz bezieht sich auf den All-Operator der logischen Qualifikation. Er besagt, dass jede All-Aussage sich aus dem, was sie aussagt, selber ausschließt. Sie gehört einem höheren logischen Typus an als ihr eigener Aussageinhalt. D.h. in der Aussage: Denken und Sein sind metaphysisch identisch, bleibt ein Reflexionsrest bestehen, der jeder eindeutigen Abbildung auf das Sein unbedingt widersteht. Anders ausgedrückt, die klassische Identitätsthese von der endgültigen metaphysischen Koinzidenz von Denken und Sein kann selber in diese Koinzidenz nicht eingeschlossen werden. Der erweiterte Funktionenkalkül der symbolischen Logik gibt die genauen Bedingungen an, unter denen sich dieser Reflexionsrest der Abbildung auf das Sein entzieht.” (Gotthard Günther, Idee und Grundriss einer nicht-aristotelischen Logik)
Also gar nicht unähnlich, wenn man davon absieht dass der eine die Mengenlehre als Vorbild zu einer Ontologie sieht, der andere eine noch nicht formalisierte aber bei Hegel angelegte neue Logik aufstellen will, die endlich Philosophie als Wissenschaft ermöglicht. Für Badiou und Günther ist dieser “phantomhafte Rest” (Badiou), die Erfahrung, dass das Vorliegende in der Luft hängt, Anlass, die eigenen Thesen zu bestätigen. Bei Badiou ist das zunächst: Das Eins ist nicht und es gibt Nichts . Und bei Günther die Notwendigkeit einer Stellenwertlogik, die das “Du” neben Subjekt und Objekt mit ins Kalkül zu nehmen versucht.
Badiou hegt jedoch nicht die Hoffnung, dieses Phantom durch eine ausgefeilte Struktur auf die Bühne zu bringen. Man kann es nur benennen und dadurch eine Unterscheidung machen zwischen dem was sich je zeigt (das Resultat der Zählung-als-eins) und dem was sich aufgrund des Sich-Zeigens nicht zeigen kann, obwohl es dafür notwendig ist.
Läuft das schon wieder auf ein Zwei-Schichtenmodell hinaus? Sein und Situation? Oder findet man seine Berufung darin, das “Umherwandern des Nichts” jeweils zu bemerken? Und ist das schon das Umfeld für ein Ereignis? Es bleibt spannend.
Zum Abschluss noch ein Impuls aus dem Bereich heutiger Web-Applikationen, der mir in dem Zusammenhang interessant erscheint: Gegeben sei eine beliebige Web-Anwendung, die über Eingabefelder mit einer Datenbank “vernäht” ist. Über Eingabefelder lassen sich – teilweise von der Anwendung nicht intendierte – Anfragen an die Datenbank stellen. Blind SQL injection nennt sich das Verfahren eines Angreifers auf eine Datenbank, der durch die Begleitumstände der Antwort Schlüsse auf Inhalt und Struktur der Datenbanken zieht, obwohl der Inhalt der Rückmeldungen nicht deskriptiv ist und also keine explizite Antwort auf die Anfrage beinhaltet. Wie kommt man daher zur Information? Zum Beispiel weisen längere bzw. kürzere Antwortzeiten auf bejahende oder verneinende Antworten hin (time based blind sql injection). Der jüngste Fall einer solchen Attacke fand auf die Website eines bekannten Herstellers von Datenbanken statt. Ich konnte sowas im Rahmen einer Security-Lehrveranstaltung an der Technischen Universität selbst ausprobieren und muss sagen: Es macht Spaß. 🙂 Man bekommt das Gefühl, etwas herausfinden zu können, was sonst im Verborgenen bliebe. Und das mit ganz handfesten Anfragen, das heißt in einer herkömmlichen Situation, in der man über die üblichen Kanäle einer Web-Anwendung läuft. Jedoch geht es einem nicht um die Funktionalitäten der Anwendung, sondern um die darunterliegende Struktur, die das Erfüllen von User-Bedürfnissen im Rahmen einer Anwendung ermöglicht. Was einem nicht zur Verfügung steht sind explizit aufgeschriebene Antworten, dafür aber unterschiedliche Antwortmodi, die man bemerken und dementsprechend (weitere) Anfragen formulieren kann.