Die idealen Sprachen sind mancherorts zu einem komplexen Geflecht von Grammatiken, Konventionen und Spezifikationen geworden. Versionierungen von Befehlssätzen sowie Normen zur Repräsentation von Zahlen sind nur zwei Beispiele. Man kann die (teils disruptive) Evolution von Architekturen nachvollziehen, die parallel verwendet und weiterentwickelt werden. Diese wurzelwerkartige Vielfalt ist eine Folge der Verwendung wohldefinierter Strukturen für bestimmte Zwecke. Damit kommen die idealen Sprachen wie ein Bumerang zurück zum Alltag und werden selbst zum Objekt für Betrachtungen und Experimente. Anders gesagt findet man Situationen – informatische Situationen – wo sich Begriffssysteme realisieren, mit dessen Hilfe man Abläufe nicht nur strukturieren sondern konkret ausführen kann.
Doch welchen Blickwinkel kann man noch einnehmen bei der Betrachtung der Inkarnationen idealer Sprache? Wieder den der idealen Sprachen wo es darum geht die Konzepte auf einheitliche Abstraktionsniveaus und verständliche Zusammenhänge zu bringen? Den der Alltagszwecke, in der die Adäquatheit von den Effekten abhängt, die die Verwendung der Sprache auf das Einsatzgebiet wirft? In dieser Spannung von Wissenschaft, Pragmatik und Performance steht die Informatik, zunächst und zumeist. Zumindest das Folgende ist zu bemerken: Programmiersprachen, so wie unsere Alltagssprache, sind nicht nur vorhandenes Werk sondern ebenso work in progress und nicht immer durchschaubar. Sie ermöglichen Abspaltungen, Dialekte, neue Verwendungsweisen; disruptiv oder allmählich. Und wichtig: Was man mit ihnen macht, strukturiert zunehmend den Alltag.
Ontologie ist weniger kompromissbereit. Sie möchte den kurzfristigen Alltagszwecken und damit den volatilen Strukturen widerstehen und die Frage stellen: Was strukturiert ‘das alles’? Vorsicht ist geboten, denn man kann sich – beim Absehen von als partikulär eingestuften Tatsachen und im Versuch, robust zu sein gegen einzelne Impulse – unwillkürlich in Spekulationen verlieren, d.h. Vermutungen anstellen, wie ‘das alles’ sein könnte, die sich jedoch nicht mehr so einfach in Verbindung bringen lassen mit dem, was tatsächlich und im Einzelnen passiert. Die Folgen formuliert ein Pop-Song: “I wish I could see myself in anything, now it seems nothing is everything.” (Lyrics)
Und so versucht man es methodisch abgesichert – und was kann dabei ein besseres Vorbild sein als die Mathematik? Man denkt – wenn man entsprechend ausgebildet wurde – an Kant und seine Frage: Wie ist Metaphysik als Wissenschaft möglich? In seiner sogenannten ‘vorkritischen’ Phase findet sich jedoch ein Zweifel, dass man mit der Nachahmung des Mathematikers schon den wichtigsten Schritt getan hätte:
“Die Methodensucht, die Nachahmung des Mathematikers, der auf einer wohlgebähnten Straße sicher fortschreitet, auf dem schlüpfrigen Boden der Metaphysik hat eine Menge [..] Fehltritte veranlaßt, die man beständig vor Augen sieht, und doch ist wenig Hoffnung, daß man dadurch gewarnet, und behutsamer zu sein lernen werde. Diese Methode ist es allein, kraft welcher ich einige Aufklärungen hoffe, die ich vergeblich bei andern gesucht habe; denn was die schmeichelhafte Vorstellung anlangt, die man sich macht, daß man durch größere Scharfsinnigkeit es besser als andre treffen werde, so versteht man wohl, daß jederzeit alle so geredet haben, die uns aus einem fremden Irrtum in den ihrigen haben ziehen wollen. (Kant, 1763, Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseyns Gottes)
Wenn mich jemand fragt: “Was meinst du, was strukturiert unsere Welt?” dann würden mir, das wurde schon deutlich, als erstes die Auswirkungen der Informatik auf unser Zusammenleben einfallen. Man könnte einwenden, dass das ein besonderes Interesse von mir ist und dem würde ich zustimmen. Doch gleichzeitig vermute ich, dass man ohne die Berücksichtigung von Erfahrungen, die man beim Benutzen und Entwickeln von Software macht, heute nicht Ontologie betreiben kann, wenn Ontologie sich darum bemüht, allgemeine Strukturierungen unserer Welt sichtbar und verständlich zu machen. Beobachtungen der Informatik können hilfreich sein beim Aktualisieren von ontologischen Problemstellungen. Da es sich bei der Informatik um ein lebendiges Themenfeld handelt, dem Personen im Alltag ausgesetzt sind und von dessen Ausgestaltung nicht unwichtige Teile unseres beruflichen und privaten Lebens abhängen, werden die Antworten anders ausfallen, zumindest in neuen Formulierungen.
Vielleicht kann man auf ähnliche Weise die Relevanz der Mengentheorie für Ontologie argumentieren. Man kann außerdem Zusammenhänge zwischen Mengentheorie und Informatik finden und herstellen. Insofern lese ich “Sein und Ereignis” von Alain Badiou bisher mit Interesse. Abwechselnd werden mengentheoretische sowie durch Re-Lektüre traditioneller ontologischer Texte angeregte Überlegungen präsentiert.
Die sechste Meditation ist dem Thema der Leere gewidmet. Durch Lektüre von Aristoteles soll eine Abgrenzung zu experimentellen Tätigkeiten über das Vakuum erreicht werden. Was Physik für die ontologische Situation ist, weiß Aristoteles. Dann aber wendet sich Badiou von Aristoteles ab und möchte zeigen, dass die Leere die Vernähung einer Situation mit ‘ihrem’ Sein ist, ein unlokalisierbarer (unsituierter) Punkt. Sie ist zwar Widersinn (Unort), aber sie ist als ontologisches Konzept nicht zu ignorieren, da sie allein zeigt dass das was sich präsentiert in der Situation als Überschuss herumirrt.
Es klingt ein wenig subversiv und ich habe eine Sympathie dafür. Aber was das in Situationen bedeutet: “Das was sich präsentiert, irrt als Überschuss umher” – das bleibt noch offen. Es geht ja letzlich um Situationen, die wir erleben, in dessen Rahmen wir unsere Freiheit und Beschränktheit erfahren, in denen wir handeln und hinnehmen, in denen wir sprechen, schreiben, zuhören, lesen, arbeiten. Man muss vorsichtig sein, worauf man sich einlässt, wenn man Wendungen, die gut klingen, akzeptiert. Zumindest wenn man sie akzeptiert als Grundlagen aller Situationen.
Das sechs Meditationen umfassende erste Kapitel von “Sein und Ereignis” kann ich zunächst als Philosophie der Mengenlehre lesen. Das ist Badiou zu wenig. Das ganze Werk erhebt den Anspruch, ein Begriffssystem zu entwickeln, mit der man die Zeit, in der wir leben, verstehen kann und das eine gewisse Orientierung gibt bei dem, was uns heute alles begegnet.
Wenn aber die Gegenwart irgend einen Wert hat für eine ontologische Situation, dessen Präsentation sich jeweils sachgemäß aktualisiert – im Anschluss und im Unterschied zur Tradition – möchte ich das, was mir begegnet mit dem vergleichen, was man in dem Werk lesen und diskutieren kann (eine Beschreibung von Situationen und ihre Überschüsse). Manchmmal helfen alltägliche Beobachtungen, um Verwechslungen zwischen Idealvorstellungen einer Welt und dem, was sich tatsächlich abspielt, zu finden. Gerade auf dem gefährlichem Terrain der Ontologie ist das von großer Bedeutung. Ich bin durchaus dafür, die Anwendbarkeit der Mengentheorie auf die Welt zu prüfen und sehe ein, dass man sich nicht immer mit Partikularitäten beschäftigen kann, wenn man universale Ansprüche hat. Testfälle können aber nicht schaden.
Im kommenden Blog-Eintrag werde ich mich mit Verwendungsweisen des Schlüsselworts Void in der Informatik auseinander setzen: Der Datentyp Void, der Void Pointer und der NULL-Wert in Datenbanken. Für mich dient es zum besseren Verständnis dessen, wo und wie die Themenstellung der Leere gegenwärtig auftritt. Vielleicht wird mir dabei klarer, wie man die Einführung dieses Terms in ‘Sein und Ereignis’, die sich an Aristoteles Physik einerseits und dem Leermengenaxiom andererseits anschließt, verstehen kann.
Die Leere:
“Sie ist zwar Widersinn (Unort), aber sie ist als ontologisches Konzept nicht zu ignorieren, da sie allein zeigt dass das, was sich präsentiert, in der Situation als Überschuss herumirrt.”
In (ich habe es auf Englisch) “Number and Numbers” klingt das so (gesagt über die leere Menge als Säkularisation des Nichts):
This form is nothing other than the situation-name of being qua being, the suture of every situation, and of every language, to their latent being.” S. 83)
Meine Formulierung mit nur 0,8 % Fettanteil: Immer, wenn wir von etwas sprechen, produzieren wir Zusammenhänge, die in einen Kontext hineingestellt sind. Wir “reissen etwas an”. Das heisst auch, dass wir etwas aufreissen, nämlich die Unausdrücklichkeit des gewöhnlichen Tagesablaufes. Um einen solchen Riss zu beschreiben, brauchen wir das “blank”, wie die Leertaste beim Tippen. Ohne die Nicht-Buchstaben gibt es keine Wörter, ohne den Punkt keine Sätze. Gesetzt, ich frage nach der Vorgeschichte des “angerissenen” Themas – ich komme nur über die Ausblendung weiter.
Das ist jetzt auch etwas blumig geworden. Allerdings nicht derart unbekümmert, wie Badiou:
“The void, which sutures all language and all thought to being, is also the point of nature where number is anchored.” (S. 69)
Die leere Menge macht Urlaub bei der Seinsfrage. Ganz schön schrill.