Personenunfall: Koinzidenz und Koexistenz

Gespannt auf den Film “Hannah Arendt” mache ich mich nach der Arbeit auf den Weg ins Arthouse Picadilly in Zürich Stadelhofen. Der Infoscreen am Bahnhof zeigt Zugverspätungen in meine Richtung. Grund: “Personenunfall in Stadelhofen”, ausgerechnet. Ein Artikel im Medienportal blick.ch enthält ein Bild vom “betroffenen Gleis”. Nachdem ich mit Verspätung in Stadelhofen ankam, spürte ich die Betroffenheit nicht der Gleise, sondern der Menschen. Gegeben meine Zugerfahrung, kam mir die Stimmung zur Stoßzeit in einem Bahnhof noch nie so gelähmt und verstört vor. “Die Dauer der Störung ist unbestimmt.” Am Abend sucht die Stadtpolizei im WWW nach Hinweisen.

Und ich frage mich, was es bedeutet, wenn menschliches Unglück mit Verwaltungsterminologie beschrieben wird. Ist das die “Ideologie der Sachlichkeit”? Ich lande bei einem religionsphilosophischen Salon, der den Film „Hannah Arendt“ zum Anlass nimmt, um die Aktualität der Denkerin zu diskutieren. Das führt mich zu Alain Badious Buch “Ethik” und die Reaktionen auf die Hungerstreikenden Flüchtlinge in der Wiener Votivkirche.

Am nächsten Morgen in besagtem Medienportal heißt es: “Unfall am Bahnhof Stadelhofen – Jetzt ist klar: Der Todessturz […] war ein Unfall”. Die Person erhält ein Alter, ein Geschlecht und eine Nationalität. Die Verspätungen der Bahn werden beiläufig im letzten Absatz erwähnt. So schnell ändern sich Prioritäten.

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“better to die ten years from now”

In der aktuellen Ausgabe des New Left Review findet sich ein Gespräch mit Richard Duncan, dem Autor zweier Bücher über die Dollarkrise, Globalisierung und Schuldenfalle.

Er skizziert drei Möglichkeiten, mit der auf Dauer unhaltbaren Praxis umzugehen, stagnierende Volkswirtschaften durch massive Staatsverschuldung anzukurbeln. Die erste Option ist ein drastischer Sparkurs. Er würde direkt in eine globale Rezession führen. Die dritte Möglichkeit, die Duncan empfiehlt, sind weitreichende Programme zur Förderung der Infrastruktur und Produktivität, speziell in den Sektoren Energiewirtschaft und Pharmakologie. Dazwischen liegt das folgende Szenario (Duncan spricht von der US-Regierung):

They can carry on doing this for another five years with very little difficulty, and maybe even for ten years. The US government debt is only 100 per cent of GDP, so they could carry on for another five years and still not hit 150 per cent. But though it’s not clear how high it can go, it can’t go on forever. Sooner or later — say, ten or fifteen years from now — the us government will be just as bankrupt as Greece, and the American economy will collapse into a new Great Depression. So, that’s option two. It’s better than option one, because it’s better to die ten years from now than to die now; but it’s not ideal.

Diese Beschreibung trifft die gegenwärtige Lage. Wir finden uns eingeklemmt zwischen

  • der “revolutionären” Forderung, die bisherige Wirtschaftpolitik zugunsten drastischer fiskaler Einsparungen aufzugeben
  • der optimistischen Zukunftsperspektive, die Weltwirtschaft wäre durch Investitionen zu retten, die nicht dem herrschenden Bankwesen, sondern der Erschließung neuartiger Ressourcen dienen

Auf der einen Seite der augenblickliche Kollaps, auf der anderen der künftige Erfolg, dazwischen: “Wir sind noch einmal davongekommen.” Und nochmals, und nochmals. Aber irgendwann ist Schluss.

Eigenartiger Weise ist das auch eine Beschreibung, wie jedes menschliche Leben abläuft — und endet. Wenn man sich vor Augen hält, dass in Europa vor 70 Jahren Millionen Menschen getötet worden sind, stellt sich die Frage, ob der gepriesene Friede nach dem 2. Weltkrieg nicht abermals auf ein Massensterben hinausläuft.

Funding Philosophy in Budapest

Updates: one, two, three, four, five.

Bálint Magyar is, to all appearances, an energetic politician. He was Hungarian Minister of Education and Science from 2002 – 2006 and is currently a member of the Governing Board of the European Institute of Innovation and Technology. One of his initiatives was the founding of a National Office of Research and Technology. And one of the activities of this office was to publish a call for projects “to explore the national heritage and social challenges facing us today”.

Bálint Magyar is persona non grata for the current right-of-center Hungarian government. Magyar Nemzet, on the other hand, is a daily with close ties to FIDESZ. On January 8th it featured this quartett:

Magyar Nemzet (“Hungarian Nation”) claimed that those philosophers had missused funds on a large scale. All of them are considered “liberal”, i.e. skeptical about the present homeland politics of their country. It seems that after considerable philosophical infighting some insider has triggered a police investigation into the finances of six projects carefully selected to incite a maximum of populist indignation. Magyar Nemzet runs an almost daily campaign on behalf of the Orban government, insinuating that an elitist intellectual clique has taken control of Hungarian academic life. (Alas, still an effective type of accusation.)

It is easy to whip up resentment against money spent on philosophy. Mihaly Vajda’s project was on “The Spirit of European Totalitarism”; Agnes Heller’s on Nietzsches, Lukács and Heidegger. Another scholar, Kornél Steiger had undertaken new translations of Plato. What a waste of taxpayers money, since a translation is already available. 🙂

Laszlo Tengelyi, a native Hungarian, teaching philosophy in Germany, has addressed an open letter to the most important German philosophical associations in order to draw attention to what he calls revenge against political opponents. It is a disturbing story. Here are some links (English an German):

Update:

Mihaly Vajda’s youtube statement (in German).